Wo bleibt der Bundesnetzminister? Und: endlich wieder "Dschungelcamp". Die Geheimbotschaften der Castingshows, das Lebensgefühl ihrer Teilnehmer und Zuschauer.
Das Altpapier setzt ein Zeichen und steckt die quantitativ keineswegs unbeträchtliche Menge an Texten rund ums Themenfeld Bundespräsident Christian Wulff und die Medien in den Altpapierkorb. Dort (bzw. hier) finden Sie unter anderem frische Einschätzungen von, in alphabetischer Reihenfolge, Karl Lagerfeld, Micky Maus, Udo Röbel und Günter Wallraff, aber auch Artikel zum derzeitigen Mainstream-Strang der Debatte, der gerade maßgeblich vom Powertwitterer Peter Altmeier (CDU) bestimmt wird.
Was es qualitativ vielleicht gestattet, so zu verfahren, ist einerseits das saisonale Anschwellen von nachweislich besonders populärer Fernsehunterhaltung ("Unser Star für Baku", "Ich bin ein Star, holt mich hier raus" ...), das die Medienanalysten und -analytiker wieder besonders kitzelt, sowie andererseits eine medienpolitische Bemühung in der alten Tante Die Zeit.
[+++] Geschickterweise steht über dem online derzeit nicht verfügbaren, auf S. 27 am Ende des Wirtschaftsressorts verborgenen Artikel jedoch nicht "medienpolitische Bemühung", sondern die Top-Schlagzeile "Wo ist der Netz-Minister?".
Als Urheber hat sich ein seltsames Autorentrio zusammengefunden, das (in der Wochenzeitung in nichtalphabetischer Reihenfolge genannt) vom Bertelsmann- und Hertha BSC-Urgestein Bernd Schiphorst (Bertelsmann 1979 bis 2000, Hertha seit 2000, vgl. Schiphorsts Lebenslauf in seiner weiteren aktuellen Position als Berater) angeführt wird. Seine Co-Autoren sind der an klangvollen Titeln auch nicht eben arme Berlin-Brandenburger Landesmedienwächter Hans Hege und der Medienanwalt Christoph Wagner, dessen offizieller Titel "Office Managing Partner" auf englisch vermutlich eindrucksvoller klingt als man sich das auf deutsch denkt.
Jedenfalls erstaunlich: In ihrem Gemeinschafts-Artikel haben die drei dennoch teilweise bemerkenswert recht. Zum Beispiel mit der These, dass "die old school der Medienpolitiker", also die, die sich "an Wortungetümen wie dem Rundfunkänderungsstaatsvertrag festbeißen", "und die neuen Netzpolitiker ... unterschiedliche Sprachen" sprechen, und dass das ein generationelles Problem ist.
Daraus folgern die drei:
"Es braucht: einen einheitlichen Rechtsrahmen, der alles vom TV-Gerät bis zum Smartphone umfasst und auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einschließt. Der also zusammenfügt, was zusammengehört: Rundfunk-, Medien- und Telekommunikationsrecht."
Dann flicht das Autorentrio noch allerlei unterschiedliche Ideen, was mit der Haushaltsabgabe, die ab 2012 die GEZ-Gebühren ersetzt, noch angestellt werden könnte, in seinen Text ein, der so zu einer der typischen medienpolitischen Alles-mögliche-Ansprachen zu werden droht. Aber die Forderung nach Zusammenlegung des derzeitigen Nischenpolitikfelds der sogenannten Rundfunk- mit der auch nicht besonders prioritär gehandhabten Netzpolitik verdient Beachtung.
Relativ klar natürlich, dass zumindest Hege und Schiphorst besonders das deutsche Privatfernsehen ("Die privaten Medienunternehmen geraten in eine Sandwichpsoition zwischen nationalen Regeln und öffentlich finanzierten Webinhalten einerseits sowie den globalen Anbietern wie Google und Facebook andererseits") im Blick haben.
[+++] Dieses Privatfernsehen startet jetzt in die wichtigste Quotensaison. Und wird von den Medienseiten der Papierzeitungen besonders eifrig begleitet.
"Hunderte, Tausende, Zehntausende Deutsche, weiblich und männlich, fluten die Bewerberpools", spitzt Joachim Huber im Tagesspiegel zu und versucht dann den Kunstgriff, eine Vorankündigung von "Unser Star für Baku" (heute 20.15 Uhr in der ARD - kein Privatsender, aber eine Pro Sieben-Kooperation) mit einer Besprechung des Buches "Auf Augenhöhe? Rezeption von Castingshows und Coachingsendungen" und besonders des von Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke verfassten "zupackendsten Beitrags" darin zu verbinden:
"Sie diagnostizieren eine Castinggesellschaft, deren Antrieb lautet 'Ich will stattfinden!', deren Selbstverständnis heißt 'Ich trete auf, also bin ich!'. Es geht um das Lebensgefühl von Menschen, die das Bedürfnis nach öffentlicher Präsenz zur vorübergehenden, möglichst fortdauernden Existenzgrundlage erklären. Dass sich diese Amateure anheischig machen, die Profis - Schauspieler, Tänzer, Musiker - von der Bühne zu putzen, das stört vielleicht die Profis, die Amateure, die Sender, die Zuschauer stört es nicht."
Klaudia Wick als ebenfalls altgediente Fernsehbeobachterin diagnostiziert in der BLZ lieber selber und zwar:
"Castingshows inszenieren zwar oberflächlich ein Tellerwäschermärchen, mit ihrem Hire & Fire-Prinzip arbeiten sie sich aber insgeheim auf unterhaltsame Weise an einem Unrecht ab, das für die meisten Zuschauer eine bedrohliche Alltagserfahrung geworden ist: Das eigene Können schützt nicht mehr vor Arbeitslosigkeit."
Aufgrund der kürzlich bekannt gewordenen, vom Jurypräsidenten Stefan Raab verfügte Reglementänderungen der nationalen Schlager-Grand Prix-Teilnehmersuche folgert sie:
"Aus dem klassischen Bewerbungsgespräch vor der Einstellungskommission wird so ein modernes Assessmentcenter, in dem jeder Fleck auf der Krawatte nach dem Mittagessen, jede unbedachte Zote im Rauchereck von den Headhuntern schon als Minus vermerkt werden kann."
Irgendwo zwischen den eben umkreisten Privatfernsehphänomen der bewerbergefluteten Casting- und Votingshows rangiert die ab Freitag ausgestrahlte RTL-Show "Ich bin ein Star, holt mich hier raus".
"Das RTL-Format ...ist keine Fernsehsendung im klassischen Sinne, sondern ein multimediales Ereignis, das alle Bemühungen des Boulevard-Journalismus bündelt",
schreibt Altpapier-Auor Matthias Dell im Freitag:
"Wer Kulturverfall, Boulevardisierung und Sensationismus beklagt, der wird diese nicht in der klug geschriebenen Sendung finden, sondern in dem sie begleitenden medialen Tamtam wie bei Springer-Medien, stern.de oder Internetportalen, die fast unverändert RTL-Pressetexte weitergeben. Der Großteil der Berichterstattung zum Dschungelcamp delektiert sich in den Nacherzählungen der einzelnen Sendungen an Szenen mit genau jener faszinierten Verachtung, die Zietlow und Bach in ihren ironischen und letzlich moralischen Moderationen nicht haben."
Peer Schader formuliert in der Berliner Zeitung bodenständiger, dass die RTL-Show halt
"dank der Moderationen von Sonja Zietlow und Dirk Bach und der clever geschnittenen Tageszusammenfassungen durchaus mit einer gewissen Hintergründigkeit unterhalten kann. Nirgendwo sonst mutet das private Fernsehen seinem Publikum soviel Ironie zu."
Der ja auch in der Lebensmittelbranche bewanderte FAZ-Supermarktblogger weiter:
"Mit den Teilnehmern bei 'Ich bin ein Star' verhält es sich ein bisschen wie mit Wein: Es kommt sehr darauf an, ob man einen guten Jahrgang erwischt."
Und wenn wir bei den Jahrgängen sind:
"Die 'Ladys', so der korrekte Fachbegriff für die Teilnehmerinnen, legen sich für ihre Rosen ordentlich ins Zeug. 'Frech' steht in dieser Staffel hoch im Kurs, dicht gefolgt von 'geheimnisvoll'...",
charakterisiert Sarah Mühlberger ebenfalls in der DuMont-Presse den aktuellen Jahrgang der reanimierten RTL-Show "Der Bachelor", die bei der Trashanalyse zu vernachlässigen ja auch ungerecht wäre. Überschrift: "Lachen, lechzen, lästern".
[listbox:title=Artikel des Tages[Showanalyse des Tsp.##...der BLZ I (USFB)##...der BLZ II (IBESHMHR)##Showanalyse des Freitag##Wallraff über Bild-Zeitung/ Wulff (BLZ)##Was ist Google inzwischen? (SZ-Digiblog)]]
Man kann sich als Medienbeobachter also jetzt auch wieder an hippem, als hintergründig oder gesamtgesellschaftlich aufschlussreich einschätzbarem Privatfernsehentertainment delektieren (zumal auch noch die Süddeutsche gestern, inzwischen frei online aus vielleicht nicht unmittelbar einleuchtenden, aber umfangreich aufbereiteten Gründen das Comeback des Genres Sitcom erklärte).
Man muss also vielleicht nicht mehr immerzu über Christian Wulff räsonieren. Für einen prallvollen Altpapierkorb reicht es freilich noch locker.
Altpapierkorb
+++ Exklusive Zeichnung von Karl Lagerfeld zur Christian Wulff-Frage für faz.net. +++ Christian Wulff im Spiegel der aktuellen "Micky Maus" (Tagesspiegel). +++ Christian Wulff, vom früheren Bild-Zeitungs-Chefredakteur und jetzigen Krimiautor Udo Röbel betrachtet ("Im Vergleich zum Internet könnte man ja fast sagen, dass Bild zahnlos geworden ist"; langes TAZ-Interview von Georg Löwisch und Peter Unfried). +++ "Herr Wallraff, die Bild-Zeitung inszeniert sich als Aufdeckerin von Missständen und Hüterin der Pressefreiheit - ist die Boulevard-Zeitung jetzt endgültig seriös geworden?", fragt die BLZ. Antwort: "Es ist nicht besonders seriös, wenn Bild-Chefredakteur Kai Diekmann über viele Jahre vertrauliche Gespräche mit einem Politiker pflegt und diesen dann plötzlich vorführt und öffentlich bloßstellt. Man hat den Eindruck, Bild will ihn vernichten...". Dann hat Wallraff noch die gute Idee, Wulff zur Strafe für ihn und zur Entlastung der Steruerzahler lebenslänglich im Amt zu belassen, "wenn er die Stromstöße dieser medial inszenierten Hinrichtung politisch überlebt". +++
+++ Der Hauptstrang der Debatte: Powertwitterer Altmeiers epochaler Tweet "Ich mach mich jetzt vom Acker. Wünsche mir, dass Christian seine Anwälte an die Leine legt und die Fragen/Antworten ins Netz stellt", und was die von ihm angeführte Unionsfraktion sonst noch so äußerte ("Die Medien würden in Wulffs Heimat Niedersachsen 'in Kompaniestärke' recherchieren und 'alles aufwühlen'"), vgl. Süddeutsche. +++
+++ "Das neueste Dokument" in den Wulff-Krisen, das das FAZ-Feuilleton nennt, ist bloß das gestern bzw. vorgestern anderswo geschilderte, nun auch von der FAZ referierte zweite Wulff-Gesprächsbuchfinanzierungsproblem. Immerhin ein schönes Foto von David Groenewold in relativ intimem Kontakt mit Privatfernsehmoderatorin Nova Meierhenrich hat faz.net. +++ "Gernot Lehr ist der Mann, der Christian Wulff aus der Schusslinie bringen soll..., jetzt gerät er allerdings selbst in die Kritik". SPON stellt Wulffs Berater vor, allerdings nicht die im Vorspann angekündigte Kritik. Die bringt die FAZ (S. 2) auf den Punkt: Lehr befinde sich "faktisch in einer problematischen Doppelrolle: Der Bonner Presserechtler beruft sich einerseits auf anwaltliche Verschwiegenheitspflichten, andererseits gibt er Interviews, spricht mit Journalisten im Hintergrund und sucht sie auch im Sinne eines Spin Doctors zu beeinflussen. In der Doppelrolle sind Zielkonflikte programmiert". +++
+++ Und auf S. 10 kommentiert die FAZ die 400-Fragen-Frage: "In dieser Fragen-über-Fragen-Affäre noch den Überblick zu behalten, will sagen: die 'harten' Fragen von taktischem Kesseltreiben zu unterscheiden, vermögen außer Wulff wohl nur noch wenige. So entstehen genervte Zwitschereien wie die Peter Altmaiers, 'Christian' solle seine Anwälte gefälligst 'an die Leine' legen. Dass die sich zieren, allen mitzuteilen, was Journalisten ihrem Mandanten entlocken wollen, ist eigentlich auch im Interesse der jeweiligen Journalisten". +++ "Vieles was gerade abläuft, kennt man als Methoden des Boulevards, neu ist ihre Anwendung bei Politikern und neu ist auch, dass seriöse Medien dabei mitmachen", schreibt Marc Brost vorn auf der Zeit. +++ Aus dem deutschsprachigen Ausland sieht die NZZ "die übliche törichte, voreilige Pseudo-Erregung, gehorchend den Geboten des Sensationalismus und des grossen medialen Lemmingzugs" auf Seiten der Medien, aber auch "die Salamitaktik des Betrügers Guttenberg" auf Seiten des Präsidenten sowie die deutsche Tradition des "Aussitzens von Krisen". +++
+++ Zurück in Privatfernsehen: Das große SZ-Interview mit dem neuen Sat.1-Chef Joachim Kosack startet auch mit Wulff ("Wir haben mit N24, unserem Nachrichtenzulieferer, und der RTL-Gruppe Protest eingelegt. Ich hätte es wichtig gefunden, dass Herr Wulff bei uns zu sehen gewesen wäre"), später kreisen Kosacks Aussagen aber um Kernkompetenzen von Sat.1 ("Wir haben insgesamt vier Serienpiloten in Entwicklung: eine Starsky & Hutch-Konstellation, dann das Projekt Familie im Zeugenschutzprogramm, 'Familie Undercover'. Und eine Bodyswitch-Geschichte: Die böse Dünne wird plötzlich dick und die nette Dicke dünn. Zusammen müssen sie ein Wellnesshotel führen"). +++
+++ Netzpolitik: Die "Frage, ob Google ein einfacher Webdienst, ein Monopolist oder bereits grundlegender Teil der Web-Infrastruktur ist", wirft Johannes Kuhn mit vielen (externen) Links im SZ-Digitalblog auf. +++ Das interesante "slowakische Flatrate-Modell für Webinhalte", das 1,99 Euro pro Woche oder 4,89 Euro pro Monat für freien Zugang zu ansonsten "exklusiven journalistischen Websites" gestattet, "wird international", meldet die Süddeutsche auch. Auch wenn es streng genommen erstmal nur aus der Slowakei nach Slowenien expandiert. +++ Einen Schnäppchentipp für Journalisten, die gern auf Papier lesen, hat indes netzpolitik.org: Das u.a. von Wolf Schneider herausgegebene Buch mit dem interessanten Titel "Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus" gibt's für nur 4,50 Euro bei der Bundeszentrale für politische Bildung. +++
+++ Über von Stuttgarts Polizei "auserwählte Journalisten" sowie Rafael Seligmanns "Jewish Voice from Germany" (keine Castingshow, eine Zeitung) berichtet die TAZ. +++
+++ Und zurück zu Micky Maus: "Der ägyptische Milliardär und Politiker Naguib Sawiris soll wegen einer Karikatur vor Gericht gestellt werden, die angeblich den Islam beleidigt". Er hatte 2011 "über Twitter eine Karikatur verbreitet, auf der die Comic-Figur Micky Maus mit langem Bart und dem Gewand der Salafisten zu sehen ist. Neben dem Islamisten-Micky steht seine Gefährtin Minni Maus, die einen Gesichtsschleier trägt", meldet die FAZ. +++ Die auf der Medienseite vor allem einen lesenswerten Artikel über englischsprachige Journalisten bietet, die "bei den englischsprachigen Diensten chinesischer Staatsmedien" arbeiten und "im Widerspruch zwischen eigenem Anspruch und der Zensur" leben. Und die FAZ-Autorin Friederike Boege überwiegend baten, nicht ihre wahren Namen zu nennen. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.