Tatort Nazizeit

Tatort Nazizeit

2012 wird es ganz neue "Tatort"-Folgen geben. 1935 gab es die Gestapo-Entführung eines jüdischen Journalisten, an der jedoch wohl kein späterer Radio-Intendant beteiligt war.

Die an diesem Donnerstag in papiernen und digitalen Medienmedien am breitesten vertretene Medienmeldung: Im März 2012 sollen die Dreharbeiten zu einer ersten "Tatort"-Folge vom neuen "Tatort"-Schauplatz Dortmund beginnen, die in ungefähr einem Jahr ins Fernsehprogramm der ARD kommen soll (u.v.a.: sueddeutsche.de, kress.de, Bild-Zeitung, am ausführlichsten: TAZ und der Tagesspiegel, der in seinem Artikel auch weitere WDR-Pläne streift).

Es solle sich bei den Dortmunder Folgen um "Working-Place"-Dramen handeln (Tsp.). Es soll aber auch Fußball vorkommen (fr-online.de), und natürlich "eine Prise Humor" (und zwar "der trockene Humor der Menschen im Ruhrgebiet", ksta.de). Das sagte jeweils der breit zitierte WDR-Redakteur Frank Tönsmann.

Das relativ Interessanteste daran ist, wie Hans Hoff in seinem Artikel auf der Medienseite der Papier-Süddeutschen abschließend schreibt:

"Produziert wird der Dortmunder Tatort von der Bavaria-Tochter Colonia Media, die auch für die Kölner und Münsteraner Tatorte verantwortlich zeichnet" - und zu einem Drittel dem WDR gehört, könnte man hinzufügen. "Beim WDR legt man Wert darauf, dass der neue Tatort zusätzlich zu den schon bestehenden aus Münster und Köln in Angriff genommen wird."

Das heißt, es werden insgesamt 2012 mehr "Tatort"-Krimis produziert als 2011. Und sollte Deutschland auch in eine Rezession schlittern, wie heute geschlagzeilt wird, zumindest im Krimigenre bleibt das Prinzip des Wachstums erhalten.

Die an diesem Donnerstag exklusivste Medienmeldung steht auf der Medienseite 35 der FAZ und derzeit nicht frei online (wie seit dem faz.net-Relaunch ohnehin deutlich weniger Medien-Zeitungsartikel ins freie Netz gelangen). Ihre Brisanz wird nur dadurch relativiert, dass das Geschehen, um das es geht, schon weit zurückeliegt. Aber die Überschrift klingt sehr attraktiv: "Der Intendant war nicht der Entführer".

Der einer Entführung verdächtige Intendant war Hans Otto Wesemann, der 1961 zum ersten Chef der Deutschen Welle gewählt, später Vorstandsvorsitzender der Stiftung Warentest wurde und 1976 starb.

Dass dieser Wesemann "ein Gestapo-Agent und KGB-Spion" gewesen sei und in der Nazizeit, 1935, den emigrierten Publizisten Berthold Jacob (siehe Wikipedia) aus der Schweiz entführt habe, "schreibt der ehemalige 'Spiegel'-Redakteur Peter Ferdinand Koch in seinem Buch 'Enttarnt', das im April dieses Jahres erschienen ist", schreibt die FAZ, die das damals im April erstaunt ("Intendantenspion") registierte. Dieses Buch ist im Salzburger Ecowin-Verlag erschienen, der vermutlich daher gerade einen Artikel aus der schweizerischen Weltwoche zum Download (PDF) anbietet, welcher die Wesemann-Story, wie Koch sie sieht oder sah, ausführlich beschreibt.

So stimmt die Story aber gar nicht, schreibt heute die Deutsche Welle-Redakteurin Anke Hagedorn in der FAZ. Es handele sich um "eine fatale Verwechslung" Hans Otto Wesemanns mit "Hans Wesemann, der als Redakteur bei der SPD-Zeitung 'Vorwärts' begonnen hatte" und in Paris "1934 von der Gestapo angeworben wurde":

"In seinem Buch hat Peter Ferdinand Koch die Lebensläufe der beiden Männer einfach miteinander verquickt: Er referiert die Vita von Hans Wesemanns bis zu dessen Verurteilung wegen der Entführung Jacobs im Jahr 1936. Von 1940 an übernimmt er dann im Wesentlichen die Biographie von Hans Otto Wesemann. Um vom einen zum anderen Lebenslauf zu kommen, hat Koch einen durchaus kreativen Übergang gestaltet: Seinen Angaben zufolge hat Hans Otto Wesemann die Haftstrafe in der Schweiz nicht absitzen müssen, sondern sei 'wegen guter Führung" nach Venezuela abgeschoben worden",

wo jedoch Hans Wesemann 1971 starb. Erstmals den späteren Intendanten Wesemann mit der Entführung Berthold Jacobs in Verbindung gebracht habe, berichtet FAZ-Autorin Hagedorn weiter, der auch tagesaktuell gern als Agenten-Experte gefragte Erich Schmidt-Eenboom in seinem 1998 erschienenen, nicht mehr neu erhältlichen Buch "Undercover - Der BND und die deutschen Journalisten" (vgl. Telepolis-Besprechung damals).

[listbox:title=Artikel des Tages[Tsp. über Dortmund-"Tatort"##TAZ über Netzwerk Recherche-Aufregung##Borchers über den Staatstrojaner (Freitag)]]

Wieauchimmer, vergleichsweise schön jedenfalls die vergleichsweise Geringfügigkeit der journalistischen Verfehlungen und Abenteuer der Gegenwart hierzulande - wenn etwa die TAZ fordert: "Elite der deutschen Enthüllungsjournalisten muss sich selbst neuen Enthüllungen stellen" (anhand des bei meedia.de "öffentlich gewordenen internen Briefwechsels" zwischen den Journalismus- und Ntzwerk Recherche-Honoritäten Hans Leyendecker und Michael Haller), oder wenn die Springer-Zeitung Die Welt berichtet: "Chefredakteur jagt Dieb auf eigene Faust" (wobei es ein wenig süffisant um aktuelle Aktivitäten Hans-Peter Buschheuers geht, eines der wenigen deutschen Nicht-Springer-Boulevardblatt-Chefredakteure).


Altpapierkorb

+++ Die im Wesentlich berechtigte Aufregung über den Bundes-/ Landestrojaner ist inzwischen auf der Top-Nachrichten-Position bei bild.de ("'Staats-Trojaner' spionierte diesen Body-Builder aus") angelangt: "Wo und wie wurde die Spähsoftware eingesetzt? BILD dokumentiert einen der fünf Trojaner-Fälle. Bodybuilder Andrej W. (24, Name geändert) aus Herzogenaurach gerät im September 2009 ins Visier der Polizei...". +++ Zurück ins seriöse Fach und zu einem sozusagen positiven Aspekt dieser Aufregung: Der Skandal "führt die politische Tragweite selbst von klein erscheinenden technischen Entscheidungen vor Augen. In einer Welt, in der inzwischen alle Computer verwenden, die wenigsten sie aber durchschauen, ist das Bewusstsein für diesen Widerspruch offenbar derart gewachsen, dass er jetzt politische Folgen zeigt. Zumindest billigen viele Bürger Organisationen wie dem CCC oder der Piratenpartei inzwischen auch eine Funktion als moralische Lotsen durch die Schnellen der digitalen Gesellschaft zu", argumentiert Detlef Borchers im Freitag. +++ Sascha Lobo wählt bei SPON eine Sprache, die die deutschen Entscheider verstehen, und beklagt den Wettbewerbsnachteil, den die "digitale Unfähigkeit im staatlichen Umfeld" bildet: "In den USA und in China scheinen die besten Hacker im Auftrag der Behörden zu arbeiten, was immer man von deren Zielen auch halten mag. Die Digitalprodukte deutscher Behörden werden dagegen von Fachleuten regelmäßig verlacht." +++

+++ "Ein Göttinger Journalist steht seit Jahren im Visier des Verfassungsschutzes": Etwas merkwürdig an dieser taz.de-Meldung, dass die TAZ den Namen des Journalisten, "der 43-Jährige ist angestellter Redakteur des Göttinger Lokalradios", dieses, nicht nennt, als würde das diesem schaden. +++ "Die 'Erkenntnis' des niedersächsischen Verfassungsschutzes verblüfft jeden, der Kai Budler von Pressekonferenzen als Kollegen kennt", schreibt das Göttinger Tageblatt und verbessert auch: Der sei "seit vielen Jahren (und immer noch) freier Journalist". +++

+++ Wer weiß, wenn der "Tatort Dortmund" in der ARD on air geht, dann könnte womöglich Franziska van Almsick die "Sportschau" moderieren. Dieses Bild-Zeitungs-gesetzte, nun ja: Thema beschäftigte gerade die Medienseiten der Berliner Lokalpresse. "Worum es bei der Personalie Franziska van Almsick im Sport der ARD wirklich geht", beansprucht heute wieder die Süddeutsche zu erklären: "Je bekannter ein Kandidat ist, je öfter er bei Bild und Bunte einsitzt, desto größer sind seine Chancen, engagiert zu werden." +++

+++ Ebd.: das Schicksal von Le Soir, der französischen, vom russischen Oligarchensohn Alexander Pugatschew besessenen Papierzeitung, der die Umwandlung in eine Onlinezeitung (und im selben Zuge der Wegfall von 89 Stellen droht; vgl. z.B. SPON). "Der Redaktion bleibt nun noch eine Hoffnung. Das Handelsgericht könnte die Umwandlung der Zeitung in ein reines Internet-Medium untersagen und das defizitäre Blatt verkaufen lassen. Angeblich gibt es Interessenten, die France Soir als Papierzeitung erhalten wollen. Sollten sie nicht zum Zuge kommen, dann gute Nacht", sagt Stefan Ulrich in der SZ. +++ Ebenfalls im Besitz eines Russen, von Alexander Lebedew, aber gut in Papier-Form: der britische Independant, dem dwdl.de eine Relaunch-Besprechung widmet. +++

+++ Nix Neues aus Gütersloh heute. Das gestern hier ausführlich behandelte FAZ-Interview mit Bertelsmann-Aufsichtsratschef Günther Thielen steht inzwischen frei online. +++ Hartmut Ostrowskis Nachfolger, "der ehrgeizige, weltgewandte [Thomas] Rabe" soll "offenbar wieder mehr Welt in den Weltkonzern bringen", formulierte der österreichische Standard die Erwartungen. +++

+++ "Ihr oft geradezu pubertärer Humor ist es, was die Fans an ihnen lieben", aber manchmal "rutscht intelligent Unterhaltendes mit durch", so charakterisiert Maris Hubschmid im Tsp. Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf. +++ Und das Blatt hat jetzt auch eine exklusive Fernsehfilmankündigungsmeldung: Die beliebte Produzentin Regina Ziegler (u.a. auch "Überleben an der Wickelfront") will Hans Falladas Leben verfilmen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.
 

 

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