Anstand der Aufrechten

Anstand der Aufrechten

Na, also, geht doch: Bernd Hilder wird doch nicht MDR-Intendant, weil sich der Rundfunkrat seiner Staatsferne erinnert. Ein historischer Tag

Ist es, als habe einer die Fenster aufgestoßen (bei 2.47), wie man in dem für das Pathos großer moralischer Triumphe empfänglichen Leipzig vielleicht anheben müsste?

Bernd Hilder ist gestern jedenfalls nicht zum neuen MDR-Intendanten gewählt wurden. Der MDR selbst reduziert nüchtern den Umstand auf dessen Informationsgehalt:

"Noch kein Nachfolger für MDR-Intendanten"

Diesen epochalen Vorgang kann man natürlich auch detaillierter beschreiben. Wie die Sächsische Zeitung:

"Johannes Jenichen, ein Mann der Kirche und Vorsitzender des MDR-Rundfunkrates, erspart dem Kandidaten die Schmach vor dem Gremium. Er schickt ein Mitglied vor die Tür, wo Bernd Hilder wartet. Quasi unter vier Augen erfährt der Chefredakteur der 'Leipziger Volkszeitung', dass er durchgefallen ist... Durch einen Seiteneingang der alten Fleischbörse verlässt der Gescheiterte wenig später das MDR-Gelände. Zerknirscht und hochrot habe er ausgesehen, sagt jemand, der Hilder beim Gehen beobachtet hat."

Als Reaktion von Hilder sind, etwa in der SZ, bislang nur zwei Sätze überliefert:

"'Schade. Gerne hätte ich dem MDR geholfen, aus seiner Krise herauszukommen.'"

Die anderen Stimmen lassen hingegen darauf schließen, dass eine Wahl Hilders die Krise des MDR nur verstärkt hätte. Sounds jedenfalls nach Befreiung, wie etwa Superintendent Jenichen wird in der SZ zitiert wird:

"'Ich habe einen tollen Rundfunkrat, das Ergebnis ist ein Zeichen unserer Unabhängigkeit.'"

Das ist bemerkenswert. Von einem DJV-Vertreter wie Thüringens Wolfgang Marr

"'Das war ein Sieg der Aufrechten'", charakterisierte er das Ergebnis, eine Entscheidung, "'bei der die politische Farbenlehre keine Rolle gespielt hat'"

– konnte man solche Sätzen erwarten. Jenichen dagegen galt, gemäß der gut informierten Thüringer Allgemeine, als Hilder-Unterstützer:

"Sowohl Hilder-Unterstützer Johannes Jenichen wie auch dessen Gegner Hans-Jürgen Döring hatten im Vorfeld berichtet, die Mehrheit der Stimmen hinter sich gebracht zu haben."

Alle Menschen werden Brüder

"als am Montagmittag klar wurde, dass Bernd Hilder bei der Wahl zum Intendanten des Mitteldeutschen Rundfunks gescheitert war, ließen MDR-Mitarbeiter die ersten Sektkorken knallen" (Berliner) –

– das ist auch der Eindruck, den man beim Lesen des Welt-Artikels von Uwe Müller und Marc Neller zum Thema bekommen kann – immerhin gilt eine Äußerung der Linkspartei dort als gewöhnliches politisches Statement:

"Die Fraktionschefs der Linken im Sendegebiet interpretieren das Ergebnis als 'Ohrfeige' für die sächsische Staatskanzlei. Selbst CDU-nahe Rundfunkräte sehen es so, zumindest die aus Thüringen und Sachsen-Anhalt."

Was hat nun aber den Ausschlag gegeben, dass der MDR-Rundfunkrat nicht wie vom MDR-Verwaltungsrat vorgesehen, den "Polit-Kandidaten" (TAZ), also den Mann der sächsischen Staatskanzlei durchgewunken hat?

Christiane Kohl mutmaßt in der SZ, dass der am Wochenende durchgestochene GEZ-Fragebogen Hilders, auf dem neben dem "Ja" bei der Frage nach den Rundfunkgebühren ein handschriftliches "leider" vermerkt sein soll, eine gewisse Rolle gespielt haben könnte. Oder dass zumindest Hilder beim Dementi keine bella figura gemacht hat:

"Nach den Berichten von Sitzungsteilnehmern erklärte er etwas vage, dass es sich wohl um eine Fälschung handeln müsse. Ob er denn bereits Strafanzeige wegen dieses ungeheuren Vorwurfs gestellt oder eine Gegendarstellung verlangt habe, kam als Nachfrage im Gremium. Hilder habe sich herausgeredet, 'es kam kein wirklich handfestes Dementi', sagt Wolfgang Marr, der als Mitglied des Deutschen Journalistenverbands (DJV) im MDR-Rundfunkrat sitzt."

In der Thüringer Allgemeinen, bei der Marr arbeitet, wird dem Papier indes keine entscheidende Bedeutung beigemessen:

"Doch die Gegner Hilders griffen offenbar auch zu wirklich schmutzigen Tricks. Am vergangenen Freitag wurde verschiedenen Zeitungen die Anmeldung Hilders zur Teilnahme am Gebühreneinzugsverfahren zugespielt. Auf dem GEZ-Formblatt war angeblich handschriftlich vermerkt, dass Hilder nur ungern Gebühren zahle. Auch unserer Zeitung lag dieses Schriftstück vor. Auf eine Berichterstattung wurde verzichtet, weil es sich kurzfristig nicht verifizieren ließ."

In der Berliner berichten Ulrike Simon und Björn Wirth stattdessen von zwei wichtigen Übereinkünften bei der Tagesordnung:

"Zwar hätten es die Hilder-Befürworter aus der Sachsen-CDU wohl gerne gesehen, wenn so lange gewählt worden wäre, bis sie ihren Kandidaten durchgeboxt haben. Doch dem wirkte ein Rechtsgutachten entgegen, das im Landtag Sachsen-Anhalts erarbeitet und erst kurz vor der Wahl verschickt worden war... Auch der von manchem geplante Trick, den Tagesordnungspunkt 'Intendantenwahl' vor den Bericht des Verwaltungsratsvorsitzenden zu ziehen, kam nicht zur Anwendung. Und so konnte Gerd Schuchardt seine Kritik an den Umständen, unter denen Hilders Nominierung zustande gekommen war, noch einmal dezidiert vortragen."

Die Bedeutung von Schuchardts Bericht streicht auch Matthias Thüsing in der TA heraus:

"Minutiös berichtete er die Vorgänge in der entscheidenden Sitzung des Verwaltungsrates vom 24. August, als vier Wahlgänge, mehrere zum Teil lange Sitzungsunterbrechungen und etliche Telefonate benötigt wurden, um den langjährigen Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung zum Kandidaten von zwei Dritteln der Mitglieder im Verwaltungsrat zu erheben. Am Ende habe nur er und ein Kollege aus Sachsen-Anhalt noch einsam am Tisch gesessen, während draußen vor der Tür des Beratungsraumes die notwendige Mehrheit zurecht gezimmert worden sei."

Am Ende stand das "vernichtende" (Sitzungsteilnehmer) Votum von 12:29 gegen Hilder, mit dem die Berliner titelt: eine Zwei-Drittel-Mehrheit – bloß andersrum.

Als Verlierer darf vor allem der Chef der sächsischen Staatskanzlei, Johannes Beermann gelten. Steffen Grimberg kommentiert in der TAZ:

"Zudem bedeutet es die Bruchlandung der CDU-Medienpolitik und ihres Majordomus, des sächsischen Staatskanzleichefs Johannes Beermann. Der zog beim MDR mit der ihm eigenen medienpolitischen Grobmotorik hinter den Kulissen die Strippen und meinte, mal eben einen Intendanten küren zu können. Sein Großprojekt, gleich ARD und ZDF komplett zu reformieren und sie in der Union genehme Schranken zu verweisen, kann er nun erst mal vergessen."

Zu den Geschlagenen gehören weiters neben dem Kandidaten, den Grimberg "leberwurstbeleidigt" nennt und der nun bei der Leipziger Volkszeitung weitermacht, der MDR-Verwaltungsrat. Und Noch-Intendant Udo Reiter. Der zwar in Bart-"Ich habe nichts gemacht"-Simpson-Manier behauptet:

"Das hat mit mir alles nichts mehr zu tun."

Doch daran äußern Sonja Pohlmann und Joachim Huber im Tagesspiegel Zweifel:

"Vielleicht doch? Die sächsische Staatskanzlei bedauerte nämlich die Niederlage. Die Besetzung des MDR-Postens mit Hilder sei ursprünglich die Idee von Reiter gewesen und vom Verwaltungsrat aufgegriffen worden, erklärte Staatskanzlei-Chef Johannes Beermann (CDU)."

Dieser Lesart pflichtet Thüsing in der TA bei:

"So gilt es inzwischen als sicher, dass Hilder bereits lange in den drei mitteldeutschen Staatskanzleien vor- besprochen war, bevor Udo Reiter im Frühsommer seinen überraschenden Abschied von der Leitung des Senders verkündete. Der scheidende Intendant Reiter selbst soll Hilder dabei vorgeschlagen haben."

Der auch noch mal auf die merkwürdige, unserer Leistungsgesellschaft fern stehende Kandidatenkür fokussiert:

"Für den Fall einer öffentlichen Ausschreibung der Stelle wäre Hilder mit seinen 13 Jahren Hörfunkerfahrung davon zumeist als Korrespondent in den USA und Mexiko kaum erste Wahl gewesen. Passenderweise erreichte just am Tag der entscheidenden Abstimmung im Verwaltungsrat ein Gutachten das Gremium, wonach auf eine solche Ausschreibung zwingend zu verzichten sei."

Was nun kommt? Am 9. Oktober will der Rundfunkrat über einen neuen Kandidaten entscheiden. Der Tagesspiegel erinnert an eine alte Kandidatin:

"Das könnte die MDR-Justiziarin Karola Wille, 52, wieder ins Spiel bringen, die bei der Wahl im Verwaltungsrat zunächst eine knappe Mehrheit hatte, um dann gegen Hilder zu verlieren. Zumindest formal spricht nichts dagegen, dass Wille erneut ausgeguckt wird. Klar ist, dass die Gremien bei der Kandidatensuche mit gegenseitiger Opposition, ja Obstruktion nicht weiterkommen."


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Ist das wirklich so klar? TA und TAZ gehen davon aus, dass die Wahl Zeit brauchen wird. Karola Wille wird wohl nur zum Zuge kommen, insofern sie nach Reiters Abdankung Ende Oktober nominell die Geschäfte führen würde. Wahrscheinlicher als eine des bisher möglichen Lösungen – neben Wille Helfried Spitra – gilt wohl ein politikfernerer Kandidat von außen: eine Art Joachim Gauck der Intendantenszenerie.

In der ganzen Geschichte steckt natürlich mehr. Nach der Schlappe in der Causa Brender, als trotz medialen Dauerfeuers inkl. Schirrmacher'scher Apokalypse-Ganzseiter der Wille Roland Kochs nicht verhindert werden konnte, hat die Demokratie hier nun einen Sieg für die verfassungsgemäße Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erringen können.

Interessant wäre zu wissen, warum das gelingen konnte. Hilft die Erinnerung an die Selbstermächtigung vor 20 Jahren im Osten? Ist Beermann doch nur ein Westentaschen-Rolli-Koch? Oder muss der, wenn man der Politik in diesem Land einen ausgeprägten Machtwillen zuerkennt, der MDR-Intendanten-Posten als unbedeutender gelten als die Stelle des ZDF-Chefredakteurs?

Als ein Mann, der solche Fragen beantworten könnte, empfiehlt sich heute Michael Jürgs. Der schreibt in der FAZ (Seite 33) einen völlig irrsinnigen Artikel über den MDR aus seinem Dünkel gegenüber den "Prolos", der Passagen beinhaltet, die dem Geschäft des ostdeutschen Metaphernkönigs Dirk Thiele in nichts nachstehen:

"Spürnasen im eigenen Haus dagegen waren lange Zeit verstopft. Das Rüchlein von Korruption entwickelte sich deshalb erst spät zum öffentlich-rechtlichen Gestank, zur Dunstwolke, die auch all jene zu ersticken drohte, die sich nichts zuschulden kommen lassen und ihre Arbeit machen, also die Mehrheit in der Anstalt, die sich unterscheidet vom einst hochgelobten Unterhaltungschef Udo Foht, dem aufgrund penetrant riechender Finanztransaktionen suspendierten ehemaligen IM Karsten Weiß, der jahrzehntelang beste Quoten erzielte."


Altpapierkorb

+++ Der Rest in Kürze: WDR-Intendantin Monika Piel verteidigt in der FAZ (Seite 33) jüngste KEF-Diskussionen (siehe auch Altpapier von gestern). +++ Beruhigend oder abschreckend? "Facebook hat erst bei 1 Prozent seines Weges geschafft" (FAZ, Seite 17). +++ Der Begriff "Internetsucht" ist Unsinn (TAZ). +++ Beim Berliner Radio Eins wird "durchgeputzt" (TSP). +++

+++ Außerdem: der dritte Auftritt von Günther Jauch. Allein mit Angela Merkel this time. Matthias Kalle, der seinen Text mit einer irritierenden Amtsbezeichnung beginnt ("Wenn der Bundeskanzler in eine deutsche Talkshow kommt"), fand's im Tagesspiegel gut. +++ Die TAZ schreibt dagegen auf Seite 1: "Wenige Tage vor der Bundestagsabstimmung über Bürgschaften für kriselnde Eurostaaten hat die Bundeskanzlerin eine Art Regierungserklärung via Fernsehen abgegeben." +++ Was Nico Fried in der SZ (Seite 15) so ähnlich gesehen hat, aber abwägender diskutiert: "Man muss es dann aber auch nicht übertreiben und ein Gespräch mit nur einem einzigen Gast zur reinen Abfragerei entlang der eigenen Moderationskärtchen entgleiten lassen. Da stößt der Charme der Unbeholfenheit an die Grenze des Erträglichen." +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.
 

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