Moral und Kunst

Moral und Kunst

Überschreitet ein öffentlich-rechtliches Kammerspiel heute Abend „Tabugrenzen“? Und überschreiten öffentlich-rechtliche Finanzmanager mal wieder ganz andere Grenzen?

Das dominierende Thema ist heute der jetzt endlich zu sehende „Polizeiruf 110 - Denn sie wissen nicht, was sie tun“, ein Film über ein islamistisches Selbstmordattentat in München, dem bereits eine lange Debatte vorausgegangen ist, weil der zuständige BR ihnmit Verweis auf den Jugendschutz auf 22 Uhr verschoben hat (siehe unter anderem Altpapier von gestern). Als Einstieg in die Materie kann die Berichterstattung der Funkkorrespondenz dienen, dort lässt sich noch einmal im Wortlaut nachlesen, wie BR-Programmdirektor Gerhard Fuchs die Verschiebung im Detail begründet und wie Regisseur Hans Steinbichler reagiert hat.

„Anspruchsvolle Filme wie der ‚Polizeiruf‘ oder der ‚Tatort‘ dürfen – ja, müssen sogar – bei ihrem Versuch, gesellschaftliche Strömungen und Empfindungen darzustellen, immer wieder Grenzen suchen, testen und überschreiten. Den Mut, den Hans Steinbichler – ebenso wie die betreuende Redaktion – gezeigt hat, schätze ich sehr und halte als Mentor meine schützende Hand über sein Werk“,

schreibt Fuchs, und das klingt ja nicht unbedingt wie die Passage aus einer Begründung dafür, dass man sich entschieden hat, einen Film weniger Zuschauern zugänglich zu machen. Auch Steinbichler gibt sich teilweise moderat:

„Für mein Empfinden hat Gerhard Fuchs mit der Bewertung dieses ‚Polizeirufs‘ einen Präzedenzfall geschaffen, der eine sehr notwendige Diskussion um Sinn und Wirklichkeitsnähe des gesetzlichen Jugendschutzes in Gang bringen kann und muss. (...) Ich denke, dass diese Diskussion den Zeitpunkt 20.15 Uhr in Deutschland verändern wird und vielleicht verändern muss. Den Preis, dass ‘mein‘ ‚Polizeiruf‘ deswegen später laufen muss, zahle ich dann gerne.“

Wobei man da natürlich auch Sarkasmus heraushören könnte. Im letzten Satz ist wohl das Wörtchen „dann“ wichtig. Steinbichler zahlt seinen Preis nur „dann gerne“, wenn der Film wirklich eine Grundsatzdiskussion auslöst. Jetzt aber zum Inhalt: Markus Ehrenberg schreibt im Tagesspiegel:

„Zugegeben, die Geschichte ist ein Albtraum, ein Horrorszenario. (...) Ein Sprengsatz geht im Fußgängertunnel zur Allianz Arena hoch. Dutzende Menschen sterben oder liegen schwer verletzt unter Schutt. Mittendrin Kommissar Hanns von Meuffels alias Matthias Brandt, der (...) nun an der Seite des sterbenden Attentäters versucht, ein zweites Inferno in München zu verhindern. (...) Verstörende Bilder, die umso nachdrücklicher wirken, als in Deutschland die Angst vor einem solchen Attentat umgeht.“

Und als Berliner kommt Ehrenberg natürlich nicht umhin, einen Bezug zur Tagesaktualität herzustellen:

„Man muss sich nur die Vorsichtsmaßnahmen beim Papst-Besuch in Berlin anschauen.“

Jochen Hieber beginnt in der FAZ (S. 37) mit einer kurzen historischen Einordnung:

„Wie so oft, wenn es um das Verhältnis von Moral und Kunst geht, verdecken die offiziell vorgetragenen Argumente auch dieses Mal den wirklichen Sachverhalt. Denn in Wahrheit und gewiss auch mit Bedacht haben der Regisseur Hans Steinbichler, der Drehbuchautor Christian Jeltsch und die verantwortliche BR-Redakteurin Cornelia Ackers den neuen ‚Polizeiruf‘ aus München auf mehrfache Weise an Tabugrenzen heran- oder über Tabugrenzen hinausgeführt.“

In der Berliner Zeitung lässt Klaudia Wick anklingen, dass die senderoffizielle Einschätzung des Films etwas mit seinem „politischen Subtext“ zu tun hat:

„Drehbuchautor Christian Jeltsch, bekannt und oft ausgezeichnet für seine gesellschaftspolitischen Krimistoffe, belässt es nicht bei der üblichen Thrillervorstellung eines durchgedrehten Einzeltäters. Er schiebt den Wahnsinn auch nicht auf fanatische Extremistenkreise ab, sondern verlegt die Bedrohung ins Zentrum unserer Gesellschaft. (...) Über allem thront ein Staatssekretär, der – so legt es Jeltsch nahe – die unschuldigen Bürger lieber wie Schlachtvieh in die Bombenfalle laufen ließe als zuzugeben, dass der (Frei)Staat in der Terrorbekämpfung versagt hat. (...) Natürlich formt sich im Kopf des Zuschauers angesichts des wirren Hin und Her der Ordnungsmächte unweigerlich die Frage: Sind wir wohlmöglich nicht nur dem Wahn des Terrors, sondern auch dem Zynismus des Staates schutzlos ausgeliefert? Und diese Frage macht, wenn man sie ernst nimmt, sicher nicht nur, aber eben auch schon Jugendlichen ab zwölf, nachhaltig Angst.“

Eine von den Norm abweichende Form der Rezension wählt David Denk in der taz. Er verpackt sie in einen Brief an die BR-Jugendschutzbeauftragte Sabine Mader:

„Höhepunkt Ihrer Argumentation war jedoch die Kritik an der ‚Hilflosigkeit des Staates‘, die der Film zeige und zudem ‚keine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse‘ biete: ‚Alle - bis auf den Kommissar -, die zur staatlichen Ebene gehören, werden mehr oder weniger als ,Hampelmänner', als Karikaturen gezeichnet.‘ Na und? Was soll daran schlecht sein, wenn Jugendliche Autoritäten zu hinterfragen lernen?“

Zu de Frage, ob in dem Film, denn unzumutbare Gewalt- und Leiddarstellungen zu sehen seien, schreibt Cordula Dieckmann bei Welt Online:

„Ist das alles wirklich schlimmer als die Katastrophenfilme über Sturmfluten, Kriegsnächte mit Bombenhagel oder Wirbelstürme, die (...) auch immer zur besten Sendezeit laufen?“

Denk führt in diesem Zusammenhang an, dass die „Tagesschau“ dann auch erst ab 22 Uhr laufen dürfe, und Ehrenberg erwähnt,

„dass andere Primetimefilme mit äußersten gewalttätigen Darstellungen wie neulich im ARD-Mittwochsfilm ‚Sie hat es verdient‘ mit Veronica Ferres, Stichwort rohe Jugendgewalt, offenbar vom BR nicht beanstandet worden sind.“

Und die qualitative Bilanz? „Bedrückendes Kammerspiel“ (Tagesspiegel); „bedrückendes, psychologisches Kammerspiel“ (Welt Online); „ein Kammerspiel, dem zwischendurch immer wieder die Puste ausgeht“ (taz), „Schade“ sei, dass dies „lediglich wohl von drei Millionen Zuschauern gesehen wird, statt von acht am Sonntag in der Primetime“, findet der Tagesspiegel.

[listbox:title=Artikel des Tages[Der politische Subtext des aktuellen "Polizeirufs" (Berliner Zeitung)##Facebook wird zum eigenen Internet (sueddeutsche.de)##Gut, wenn der Autor brennt - neun Jahre Dummy (taz)]]

Ab 2013 hätte die ARD bekanntlich gern 900 Millionen Euro mehr - vielleicht ja auch, um Filme zu produzieren, deren Millionenpublikum sie dann vorab selbst reduziert. Die Anmeldungen der Öffentlich-Rechtlichen für die kommende Gebührenperiode 2013 bis 2016 (siehe Altpapier von gestern) geißelt die Bild-Zeitung, die wichtige Schriftstücke als PDF im Angebot hat, als „Irrsinn“. Der von Michael Hanfeld in der FAZ zitierte Medienpolitikerdarsteller Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) echauffiert sich über einen „Generalangriff auf das duale System“ sowie, why not?, „die dreiste Selbstbedienungsmentalität der Intendanten“. „Mit einer durchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate von 1,3 Prozent liegt die Anmeldung unter der allgemeinen Inflationsrate und bedeutet damit faktisch eine Reduzierung der Substanz“, sagt dagegen ZDF-Intendant Markus Schächter laut Tagesspiegel/dpa. Spiegel Online konzentriert sich auf den Aspekt Sportrechte, und Christopher Keil verknüpft in der Süddeutschen das Gebührenerhöhungsverlangen mit den finanziellen Auffälligkeiten rund um die ARD-Firma Degeto und ihren fidelen Häuptling (siehe Altpapier von Mittwoch) und wirft Folgendes in die Runde:

„Der SZ liegen Zahlen vor, nach denen die Degeto von 2009 bis 2012 mit beinahe 1,5 Milliarden Euro planen konnte, um Programmvermögen fürs Erste zu beschaffen. Der beim Bayerischen Rundfunk angelegte Sportrechte-Etat des Ersten betrug im gleichen Zeitraum, inklusive Fußball-WM und Olympia, etwas mehr als eine Milliarde Euro.“

So gesehen ist die von Spiegel Online ausgerechnete Sportrechtesumme von einer halben Milliarde, die ARD und ZDF zwischen 2013 und 2016 auszugeben gedenken, dann ja gar nicht so hoch.


Altpapierkorb

+++ Montag ist MDR-Intendantenwahl! Oder ist der Begriff „Wahl“ hier irgendwie unangemessen? Flurfunk Dresden berichtet, dass der sächsische Landesverband des Deutschen Journalistenverbands „das Verfahren zu wählen, bis das Ergebnis passt, für nicht geeignet hält, um eine so wichtige Position wie die des Intendanten einer in drei Bundesländern agierenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt zu besetzen.“ Siehe dazu auch der aktuelle Beitrag im NDR-Medienmagazin Zapp.

+++ Der Umbau von Facebook (siehe auch Altpapierkorb gestern) geht weiter. Über entsprechende Ankündigungen auf der Entwicklerkonferenz in San Francisco schreibt Karsten Lemm für stern.de: „An die Stelle der bisherigen Nachrichtenspalte, die sich eher nüchtern gab, tritt in den nächsten Wochen eine Zeitleiste, die sogenannte ‚Timeline‘, die aus allen Richtungen mit Multimedia-Inhalten gefüttert werden kann. Nichts davon soll je verfallen. Anders als bisher will Facebook immer weiter sammeln, ohne ältere Einträge zu löschen.“ Eine „Herausforderung für Datenschützer“ sei das. „Facebook wird zum eigenen Internet“, es winke „eine ungeahnte Machtfülle im weltweiten Netz“, meint Johannes Kuhn bei sueddeutsche.de. Was das für die Medienbranche bedeutet, analysiert die Wirtschaftswoche. Weitere Artikel gibt es bei Focus Online und Spiegel Online.

+++ Am Ende einer von FDP- und HSV-Witzen geprägten Woche erinnert uns Thomas Goppel daran, dass sich schon lange keiner mehr über die CSU lustig gemacht hat. Der Politiker findet es gar nicht toll, wenn der Papst mit dem Meister Yoda aus „Krieg der Sterne“ in Verbindung gebracht wird. Die taz, um die es hier geht, berichtet. Anstoß von Goppels Verärgerung ist dieser Artikel.

+++ Poynter hat die Berichte jener fünf Reporter zusammengefasst, die bei der Hinrichtung von Troy Davies in Jackson/Georgia dabei waren, gegen die es bis zum Schluss massive Proteste gegeben hatte.

+++ Rupert Murdochs Ex-Zeitung News Of The World hat im Rahmen des Phone-Hacking-Skandals auch einen Minister von Labour abgehört (Reuters).

+++ Im monothematischen Vierteljahresmagazin Dummy finde man oft „grandiose Stücke von Kollegen, die bei ihrem Hauptarbeitgeber eher so vor sich hinschlumpfen“, schreibt Peter Unfried in der taz. Anlass des Artikels ist ein Sammelband zum neunjährigen Jubiläum des Magazins

+++ Im FAZ-Feuilleton berichtet Jürg Altwegg, dass diverse Schweizer Zeitschriften gerade „eine Renaissance des Feuilletons ausrufen“. „Die klassische, fachkompetente und umfassend gebildete Kritikerfigur, die im Elfenbeinturm zu einem seriösen Urteil kommt und dieses in schön gedrechselten Sätzen kommuniziert“, sei zwar „am Aussterben“, zitiert er aus einem Beitrag von Pia Reinacher in Passagen, aber ebd. verbreitet auch Süddeutsche-Redakteur Thomas Steinfeld Euphorie: „Die Techniken, Stile und Arbeitsweisen“ des klassischen Feuilletons würden „von den anderen Ressorts übernommen, von der Politik, von der Wirtschaft und nicht zuletzt vom Sport. In mancherlei Hinsicht kehren wir also gegenwärtig in ältere Verhältnisse zurück.“

+++ Thomas Ebermann wirft in der Literatur-Beilage der Oktober-Ausgabe von konkret (S. 10) anhand des von Klaus Wowereit herausgegebenen und unter anderen von Journalisten bestückten Buchs „Ich wär‘ gern einer von uns. Geschichten übers Ein- und Aufsteigen“ die Frage auf, ob das, was hier zu Lande vielen als guter, wenn nicht gar journalistenpreiswürdiger Stil gilt, nicht eher Schmockerei ist. Seine Beispiele: „Eher klein und zart, obwohl sie nicht dünn ist, (...) blickt sie verloren in den rot gefärbten abendlichen Westhimmel“ oder „Lautfetzen von Fernsehendungen schnappen durch die Türen, (....), wenn ihr welker, aber immer noch saftiger Garten das Herbstgoldlicht widerstrahlt“. Der konkret-Autor glaubt, dies als einen Henri-Nannen-Schulstil identifizieren zu können, obwohl von elf Buchbeiträgern lediglich zwei beziehungsweise „einige“ (Ebermann) dort eine Ausbildung hinter sich gebracht haben.

+++ Wo wir gerade bei der Kunst der Beschreibung und dem Schaffen von Atmosphäre sind: Ein Autorenquartett der Zeit (S. 6) will dazu beitragen, dass sich die Leserschaft von der Piratenpartei ein Bild machen kann und reportiert deshalb unter anderem deren Wahlparty in einem „Kreuzberger Szeneclub“: „Die Piraten ringsum sehen ziemlich nett aus, überhaupt nicht furchteinflößend. Sie stehen in Jeans, Cordjacketts, Piratenshirts in den Parteifarben Schwarz und Orange herum, trinken Bier und Club-Mate. Aus den Boxen dröhnt der Tocotronic-Hit ‚Pure Vernunft darf niemals siegen.‘ Ironie ist Trumpf.“ Falls damit gesagt sein soll, dass der Song „ironisch“ gemeint ist: Nö, ist er nicht.

+++ Elke Wittich erinnert derweil daran, dass sich in der Piratenpartei „auch Holocaust-Relativierer tummeln“ (Jüdische Allgemeine).

+++ Dass ein Kulturredakteur von Spiegel Online den norwegischen Neonazi Burzum, „eine Ikone der National Socialist Black Metal Szene“, in seiner Playlist hat, ist Beatpunk aufgefallen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.
 

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