Exponentielle Zeiten

Exponentielle Zeiten

Viel los in der "Diskussionsszene" (Angela Merkel): bei der CDU, bei anderen Mediendinosauriern von heute und morgen, in den Lobbyverbänden und überhaupt. Schließlich steckt das Internet überall drin.

Bei der CDU, einer der drei größeren politischen Parteien in Deutschland, fand gestern ein "anerkanntes und beliebtes Ereignis der Medienpolitik" (CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe) statt - die "CDU media night".

Stargastredner war der Präsident von Nord- und Mitteleuropa President Northern and Central Europe von Google, Philipp Schindler. Seine Unternehmensdarstellungs- und allgemeine Innovations-Ruck-Rede ("Man stelle sich nur einmal vor, dass Carl Benz und Gottlieb Daimler kein Automobil erfunden hätten, weil zu befürchten stand, dass manche Menschen zu schnell damit fahren oder den einen oder anderen Unfall verursachen würden...") lässt sich hier in voller Länge anhören und hier CDU-affin zusammengefasst ("Das Internet an sich ist keine Bedrohung") überfliegen.

Angekündigt wurde sein Auftritt von der Parteivorsitzenden Angela Merkel persönlich (Foto von oben, neben dem Schlagzeug, an dem später der musikalische Stargast Leslie Mandoki performte). Und auch wenn die Medienpolitik bekanntlich nicht zu den engeren Kernkompetenzen der Bundeskanzlerin zählt, zumindest mit dem Satz "Es ist viel los in der Diskussionsszene" traf sie durchaus einen Nagel auf den Kopf.

Diskutiert worden war vorher auf diversen Podien von vielen guten alten Bekannten der Medienpodiumsdiskussionsszene, etwa über das heiße Eisen "Qualitätsjournalismus" vom SWR-Intendanten Peter Boudgoust, dem Journalistik-Professor Stephan Weichert sowie von Claus Strunz noch in seiner Eigenschaft als Chefredakteur des Hamburger Abendblatts (auch wenn es sich in der ja bald "ausgestrunzt" (Stefan Niggemeier) hat. Recht munter ging es zumindest auf dem netzpolitischen Panel zu:

"Vergessen Sie alles, was Sie vor fünf Jahren hier gehört haben. Wir leben in exponentiellen Zeiten", sagte Gunnar Bender, Unternehmenskommunikations-Leiter bei E-Plus, um die Rasanz des Medienwandels anzudeuten. Bald wird das Internet "überall drinstecken", sodass es gar nicht lohne, ein Netzpolitik-Ressort aufzumachen. "Die Jugendlichen von heute sind die Mediendinosaurier der Zukunft", rückte der CDU-Parlamentarier Thomas Jarzombek in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Projektgruppe Medienkompetenz in der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" den Medienwandel wieder ins Lot. Doch "die information bubbles werden kleiner", so Constanze Kurz vom Chaos Computer Club. Sie sagte "Google ist eine Werbeplattform, keine Suchmaschine. Wir müssen kartell- und wettbewerbsrechtlich rangehen."

Tatsächlich sprach dann auch die Bundeskanzlerin von "fast imperialen Strukturen" bei Google, was für eine kurze Schrecksekunde im Publikum sorgte, bis sie fortfuhr: "Aber das ist alles im Rahmen des Wettbewerbsrechts akzeptiert". Womit auch diese Diskussion erst einmal wieder erledigt sein dürfte. Imperiale Strukturen sind schließlich nichts, wovor einem im Zentrum der Macht gruseln muss.

Ein wenig Nachrichtenagenturen-Aufmerksamkeit (DAPD) erfuhr dann noch ein Redebeitrag des Kulturstaatsministers Bernd Neumann, was diesem in Mediendingen keineswegs häufig widerfährt. Und ein wenig mehr zur CDU Media Night lässt sich unter den Hashtags #mn11 und #zombi bei Twitter erfahren.

Damit Sie in diesen exponentiellen Zeiten den Anschluss nicht verpassen, jetzt der Überblick über die sonstige Diskussionsszene. Da wäre erstens die Sportrechte-, genauer: Fußballrechtediskussion. Der Privatsender-Lobbyverband VPRT hat gestern "vor einem gebührenfinanzierten Monopol auf die Fußballberichterstattung im deutschen Fernsehen gewarnt", worauf heute kurz die FAZ hinweist (S. 31), deren gestriger langer Artikel zum Thema (inzwischen frei online) wiederum den VPRT vermutlich dazu angeregt hatte. Die ARD wäre nicht die ARD, wenn sie nicht eine zeitnahe Erwiderung darauf ersonnen und rumgemailt hätte.

Wenn wir gerade beim VPRT waren: Ebenfalls gestern wurde mal wieder eine Hamburger Erklärung an "Politik und Gesellschaft" gerichtet. Und zwar vom Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW), dem Gesamtverband Kommunikationsagenturen (GWA), dem Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft sowie eben dem VPRT. Falls Sie sie dennoch lesen wollen: hier (zwei Seiten als PDF). Soviel relativen Wirbel wie die Hamburger Erklärung von 2009 (siehe welt.de bzw. "Hamburger Bankrott-Erklärung"/ Niggemeier) wird diese Erklärung jedoch schwerlich hervorrufen.

Einen Tick mehr wühlen drittens Fernsehdarsteller Otti Fischer, seine Agentin und der vom Erpressungsvorwurf freigesprochene Schreiber der Bild-Zeitung die Diskussionsszene auf. Das vorgestern verkündete Urteil des Amtsgerichts München (siehe Altpapier gestern) kommentiert heute a) Michael Hanfeld in der FAZ. Da

"hat der Journalist in sehr nachvollziehbarer Weise in der zweiten Instanz einen Freispruch erster Klasse bekommen, nicht im Zweifel für den Angeklagten, sondern aus rechtlichen Gründen. Der Besitz des kompromittierenden Materials ohne Drohung, es zu verwenden, macht noch keine Nötigung aus."

"Es geht ...um Nötigung, nicht um Pressefreiheit", meint b) Ulrike Simon in der BLZ und stellt "die Frage, ob mit dem ehemaligen Bild-Redakteur der Richtige vor Gericht stand". Medienjurist Christian Schertz bestätigt ihr dann aber die Richtigkeit des Urteils.

[listbox:title=Artikel des Tages[Lederstrumpf im Internet (SZ)##Die Hilfsbereitschaft von RTL(BLZ)##Die Bedeutung des Grossosystems (kress.de)]]

Schließlich wird dann noch das große Ganze diskutiert, also das überall drin steckende Internet als Thema des laufenden eG8-Gipfels (vgl. Tagesspiegel-Meldung, netzpolitik.org). Dazu hat die Süddeutsche in einem "Café in der Nähe der Pariser Bastille" den Internetaktivisten Jérémie Zimmermann  interviewt (S. 12). Am Ende fragt sie: "Sie sind sehr oft in Brüssel. Haben Sie vor, selbst in die Politik zu gehen?" Zimmermann antwortet:

"Meinen Sie die Piratenpartei? Da versammeln sich fast ausnahmslos Dilettanten, die weder Ahnung von Politik noch von den relevanten Fragen des Internets haben. Außerdem ist eine Piratenpartei ungefähr so paradox wie einer, der sich zum König der Anarchisten ausruft."

Und für die Meinungsseite hat Andrian Kreye einen Leitartikel verfasst, dessen Überschrift "Lederstrumpf im Internet", zumal gemeinsam mit dem exklusiv online erhältlichen Foto, auf jeden Fall einen Heribert-Prantl-Metaphern-Preis verdient und Kreye vielleicht gar als Gastrednder der "CDU media night" 2012 qualifizieren würde


Altpapierkorb

+++ Diskussionsstoff zumindest für die Gremien-Diskussionsszene liefert der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir. Auf Carta fordert er mehr Transparenz für den ZDF-Fernsehrat, zu dessen Mitgliedern auch er zählt. Das liest sich ganz gut, bis man an die Stelle kommt: "Andere öffentlich-rechtliche Sender sind da schon viel weiter: Sowohl beim RBB, als auch beim Bayerischen Rundfunk, dem SR und dem SWR tagen zumindest die Rundfunkräte in öffentlicher Sitzung." Ob die dort schon herrschende Transparenz bei irgendeinem der Kritikpunkte, die sich am gewaltigen öffentlich-rechtlichen Komplex finden lassen, schon einmal geholfen hat?.. +++ Diskussionsstoff für Privatfernsehzuschauer: Klaudia Wick nimmt auseinander, "wie RTL in immer mehr Sendungen zu helfen vorgibt": "Bis die tote Ratte fliegt" (BLZ). +++

+++ "Rettung oder Untergang?" Über den laufenden, voraussichtlich am 18. Oktober entschiedenen Bundesgerichtshof-Prozesse zwischen Bauer-Verlag und einem Grosso-Unternehmen berichtet die Süddeutsche, dass der befragte Direktor des Bundeskartellamts sich eher skeptisch zum Grossosystem äußerte. Ausführlich frei online berichtet kress.de. +++ Außerdem ebd. (also SZ): Beleidigungen und Rücktritt im Betriebsrat der Frankfurter Rundschau. +++

+++ Untergang, keine Rettung erkennt wie meist Thomas Knüwer: "Von keinem deutschen Medienhaus sehe ich derzeit spannende Ansätze, eine individualisierte Kuratierung von Inhalten zu etablieren. Ihr einziges Ziel ist das Fesseln der Leser an das eigene Angebot. ... Erst haben sie die Bedeutung von Google verschlafen, nun verschlafen die Verlage die Bedeutung des Social Web." +++

+++ Hauptthema der FAZ-Medienseite: die in Misrata ansässige Fernsehstation "Libya al-Hurra " ("Freies Libyen"), die "der Propaganda des Despoten mit Berichten von der Front Paroli bietet". +++ Das der TAZ: die DSK-Affäre in französischen Medien. +++ Das des Tagesspiegel: eine "angebliche Sex-Affäre des Fußballers Ryan Giggs" in digitalen und analogen Medien Englands. +++ Noch hauptsächlicheres Thema des Tsp. allerdings: 50 Jahre "Panorama" in der ARD. Die Jubiläums-Grußbotschaft kommt von Jürgen Engert, seines Zeichens einst Chefredakteur des SFB-Fernsehens und Gründungsdirektor des ARD-Hauptstadtstudios. +++

+++ Der schon genannte Stefan Niggemeier schlägt sozusagen die Spiegel-Redakteure Ullrich Fichtner und Dirk Kurbjuweit, Verfasser der aktuellen Titelstory, für den nächsten Henri-Nannen-Bambi vor, fürs "aus dem Nichts zehneinhalb Seiten füllen" binnen einer halben Stunde. +++

+++ Und "Hinterradlutscher", eine von irgendjemandem verwendete Bezeichnung für Christoph Lütgert, ist einer der eher wenigen Begriffe in der aktuellen TAZ-Kriegsreportagekolumne ohne sexuelle Konnation. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

 

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