No change und Wutbürger

No change und Wutbürger

Die Nachberichte über den Eurovision Song Contest. Sonst so? Drei Kritiker der Henri-Nannen-Jury äußern sich mehr oder weniger verklausuliert. Und Claudius Seidl versammelt das Wutbürgertum geschlossen hinter sich

Echtzeit ist schon irgendwie Rock'n'Roll: "Aufregung im Botanischen Garten in Berlin: Der riesige Titanenwurz hat seine Blüte geöffnet. Jetzt stinkt es wieder bestialisch. Die Live-Webcam brach zusammen", heißt es bei Welt Online.

Wenn es sich also so verhält, dass die Live-Dokumentation ausfällt, wenn es stinkt, dann kann man schlussfolgern: In Düsseldorf roch es am Samstagabend ziemlich dufte – private und öffentlich-rechtliche Anbieter waren sich selten seit der Royal Wedding nicht mehr so einig: Der Eurovision Song Contest ist Stoff für Live-Ticker.

Stimmt ja auch, ist er tatsächlich – wie jedes Ereignis, das fünf Minuten nach seiner Beendigung schon wieder beinahe wurscht ist; das seine Aufmerksamkeit also weniger dem Ergebnis, sondern vor allem dem relativ kurzen Weg dahin verdankt. Wie Fußballspiele. Und anders als etwa die Katastrophe von Fukushima.

In diesem Sinn war am Samstagabend Echtzeit-Zeit mit Live-Tickern bei (in Auswahl) Tagesspiegel.de (Achtung: Nannen-Preis-Träger-Ticker! – die anderen Nannen-Preis-Beiträge dann unten im Altpapierkorb), Express.de, Focus.de, Abendblatt.de, Stern.de, Spiegel.de, Welt.de, SZ-magazin.de / Sueddeutsche.de, Bild.de, Faz.net, beim Duslog sowie, während das Programm selbst im Ersten lief, beim ZDF auf Heute.de (siehe Screenshot).

Die Plätze jenseits der Medien-, Panorama- und Gesellschaftsseiten, die im vergangenen Jahr noch der deutschen Gewinnerin gewidmet waren – also Dritte Seiten, Titelseiten, Meinungsseiten –, bekommt an diesem Montag der Fall Strauss-Kahn. DSK statt ESC. Einen Ausnahmeplatz für den Eurovision Song Contest gibt es in der Süddeutschen, in der SZ-Feuilletonchef Andrian Kreye, der auch während der Übertragung twitterte, dem Wettbewerb den Feuilletonaufmacher widmet und schreibt:

"Was dem europäischen Pop immer fehlte, war das solide Fundament des amerikanischen Vorbilds in der eigenen Geschichte. Denn dem europäischen Pop fehlt historisch gesehen die Frühphase der Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da war die Popkultur vor allem ein stiefmütterlich behandeltes Mittel der Nazidiktatur, sich die Massen gewogen zu machen."

Den Sieg Aserbaidschans findet er musikalisch schwer nachvollziehbar, in anderer Hinsicht aber interessant: "Im Sinne der Nouvelle Philosophie Bernard-Henri Lévys", der nach Europa kein Ort, sondern eine Idee sei, sei es kein Sieg für die aserbaidschanischen Gewinner Ell und Nikki gewesen, so Kreye, "sondern ein Sieg für den europäischen Traum, der sich im Osten schon lange vom American Dream emanzipierte. Und aus dem muss ja nicht gleich eine gemeinsame Identität werden."

[listbox:title=Artikel des Tages[Tagesspiegel über die Spiegel-Hausmitteilung##Kurt Kister über Kunsthandwerker##Der Henri-Nannen-Eurovision-Ticker (TSP)##Facebook-Wutbürgerseite##Der Umbruch (FTD)]]

Online, etwa bei SpOn, gibt es ausführliche Aufarbeitungen. Und meedia begutachtet beim ESC patriotische Journalisten aus aller Herren Länder, inklusive Neuss:

"Beim ESC herrscht ein eigenwilliges Selbstverständnis von journalistischer Distanz, die verwundern mag, aber wohl zu dem Event dazu gehört, wie jeder zur Objektivität verpflichtete Sportkommentator seinen Lieblingsverein hat. Nur geht der nicht im Trikot zur Arbeit."

Was am Montag in den Zeitungen zum Thema ESC vornehmlich auf den bunten oder Gesellschafts- und weniger auf den Medienseiten folgt, ist – zumindest weitgehend – leicht ergänzte 1:0-Berichterstattung: Neben den Zusammenfassungen des Geschehens mit Siegern finden sich unterdrückte Lästereien über den Austragungsort 2012, Baku, und nicht unterdrückte über jenen 2011, Düsseldorf, sowie Einschätzungen zur in jeder Hinsicht unspektakulären Platzierung von Lena Meyer-Landrut (Platz 10).

Bild bekommt bei "Lena", die vergangene Woche noch von ihr dafür gedisst wurde, dass Frank Elstner entsetzlich schlecht vorbereitete Interviews führt, plötzlich einerseits leicht glänzende Augen: "(D)irekt ans Fernsehpublikum gerichtet, sagte sie: 'Ich hoffe, dass wir noch ganz lange zusammenbleiben.' Das hoffen wir natürlich auch". Na klar, Bild. Andererseits macht sie den Kerner und eignet sich einfach die Kritik der anderen an, um zum alten Ton zurückzufinden: "Die 'Mitteldeutsche Zeitung' schreibt: 'Lena ist übers Jahr unübersehbar eine andere geworden: ernster, manchmal verkrampft und gern auch ein bisschen zickig.'"

Der Tagesspiegel nimmt nach einer kurzen Zusammenfassung vom Sonntag, 0.47 Uhr, für die Montagsausgabe noch die Pressekonferenz der Sieger mit. Die Süddeutsche, namentlich Hans Hoff, lästert ein wenig über Stefan Raab: Dass er, der Lena Meyer-Landruts – wie man nun weiß: nicht gelungene – "Titelverteidigung relativ großmäulig vorangetrieben hat, kaum den offensiven Ton wechseln wird, liegt in der Natur seiner Person."

Was die Älteren an das zwischen Ironie, Missverständlichkeit und Grundkurs Politische Systeme pendelnde Interview erinnern wird, das SZ-Berichterstatter Hoff im Februar mit Raab führte.

Desweiteren gibt es in der SZ noch ein paar Knieschüsse gegen Düsseldorf, wo Hoff am Wettbewerbstag ausgerechnet einen Trachtenumzug beobachtet hat:

"Ernste Herren in Uniform und Reih und Glied machten in Düsseldorf deutlich, dass man nach wie vor nicht unbedingt falsch liegt, wenn man den Stadtnamen auf der dritten Silbe betont. Schlimmer kann es in Baku kaum werden."

Und es gibt die Düsseldorf-Kritik auch in der taz, für die David Denk auf einer ganzen tazzwei-Seite zudem von seinem alten Problem berichtet, dass er eigentlich nicht ordentlich berichten kann:

"(D)ie 2.500 akkreditierten Journalisten waren in der Halle nur bei den Proben zugelassen. (...) Sie waren zwar da, aber nicht wirklich dabei. Und so kann ein Bericht vom ESC, zumindest was das Finale selbst angeht, nur aus einer unbefriedigenden Parallelwelt erzählen."

Schauen wir in die Zukunft: "Stefan Raab wird wiederkommen, schon nächstes Jahr in Aserbaidschan wird er auf oder neben der Bühne stehen – denn das Projekt 'Unser Star für Baku' von ARD und ProSieben scheint so gut wie ausgemachte Sache zu sein." So formuliert es die FAZ (S. 9); die SZ (S. 15) widmet den – offenbar fortgeschrittenen – Auslotungen einen Einspalter: "Eine Fortführung der Zusammenarbeit des Privatsenders Pro Sieben mit dem gebührenfinanzierten NDR (...) erscheint wahrscheinlich." Was auch aus dem DWDL-Interview mit NDR-Unterhaltungschef Thomas Schreiber herausklingt: "Im Sport gilt der Satz 'Never changing a winning team' und beim Fernsehen gilt der auch."

Und weil die Quoten gut sind, ist NDR-Chef Lutz Marmor laut SZ auch mit der Entwicklung im Bereich Gerontologie zufrieden: "Es habe sich gezeigt, dass 'die ARD die Jugend doch erreichen kann'". So so. Wobei – wenn man schon über die Zuschauerdemographie spricht – der Witz natürlich wäre, das nicht einmal im Jahr zu schaffen.

Das ZDF derweil versucht's für die Jugend mit "mehr Internet" (taz, S. 17) und zeigt heute, kurz bevor die Jugend in die Clubs losschwirrt, den nächsten Teil aus der bereits kürzlich angekündigten Internet- und Identitäten-Fernsehspielreihe, "Alice 5.0" (0.20 Uhr).

"Eine Mischung aus düsterer Zukunftsvision und realistischer Dokumentation, eine Doku-Fiktion: Das Netz wird von nur mehr einem Unternehmen dominiert, dem Host-Konzern, der ein Netzwerk für alles geschaffen hat: Versicherung, Bank und was an Kommunikationsbedürfnissen so anfällt."

Das ZDF tobe sich, heißt es zudem, "momentan intensiv auf dem Sektor der neuen Medien aus und wagt sich an die Möglichkeiten des Interaktiven."

Hey, sogar ein potenzieller Kandidat für die ZDF-Intendanz geht online steil. Die Funkkorrespondenz meldet zwar: "Ob gegen (Programmdirektor Thomas; AP) Bellut noch ein weiterer Kandidat von Fernsehratsmitgliedern nominiert wird, bleibt abzuwarten. Es dürfte allerdings eher unwahrscheinlich sein." Und Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Bewerber (siehe auch Altpapier von vergangenem Montag), hat laut einem soeben erfundenen Branchengerücht bislang auch noch nicht die erforderliche 3/5-Mehrheit im ZDF-Fernsehrat, also 47 von 77 Stimmen, hinter sich. Die Facebook-Seite "Claudius Seidl als ZDF-Intendant" aber, die die FAS am Sonntag in die Rubrik "Die lieben Kollegen" aufnahm, hat, Stand Montagmorgen, 947 971 klassische FAZ-Wutbürger Fans versammelt.


Altpapierkorb

+++ Ob Seidl eine Chance hätte, was aus heutiger Perspektive natürlich erstmal nicht anzunehmen ist, wird sich im Fernsehrat erweisen. Die Süddeutsche schreibt über den überraschend geplatzten Deal des WDR mit Boxpromoter Sauerland – und im Text heißt es über die Gremien: "Sie sind die Vertreter aller Gebührenzahler, die jedes Jahr der ARD und dem ZDF rund acht Milliarden Euro bringen. Früher waren die Gremien Abnickvereine, die von den Intendanten nur ordentlich umschmeichelt und gepudert werden mussten. Jetzt üben sie den Aufstand" +++ Ooo... ha ++

+++ Die Aberkennung des Nannen-Preises für René Pfister beschäftigt die Branche weiter. Claudius Seidl (auf der FAS-Medienseite), SZ-Chef Kurt Kister und Der Spiegel (in der Hausmitteilung) ärgern sich über die Aberkennung. Seidl: "Von Leuten (...), die den Kollegen Pfister für ihre eigene Inkompetenz bestrafen, darf man nie wieder einen Preis annehmen" +++ Kister schreibt eigentlich über was völlig anderes: "Zeichnet zum Beispiel eine Jury einen Maler aus, der gar keine richtige Kunst gemacht hat, sondern nur ordentliches Kunsthandwerk, obwohl die Jury der festen Überzeugung war, er sei ein Künstler, dann gibt es, zack, zack, eine Sitzung im Internet, in der dem Künstler mitgeteilt wird, dass er in Wirklichkeit nur ein Anstreicher sei. Ob es stimmt, ist wurscht. Hauptsache, es geht schnell." +++ Und da die Hausmitteilung des Spiegels nicht online steht, hier der Text des Tagesspiegels über die Hausmitteilung: "Der Nannen-Preis muss sich sehr anstrengen, wenn er sich des 'Spiegel' wieder würdig erweisen will. Andersherum geht nicht." +++

+++ Mehr ProSieben/ARD: Mathias Opdenhövel für die "Sportschau" im Gespräch (Spiegel). Und nach der Spiegel-Kritik in Bild vergangene Woche kritisiert nun der Spiegel wieder Springer: "Gerade verkündete die Axel Springer AG (...) einen kräftig gestiegenen Quartalsgewinn (rund 127 Millionen Euro). Doch längst nicht alle Mitarbeiter haben etwas davon. So kritisiert der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) die un tertarifliche Bezahlung angehender Journalisten in der hauseigenen Akademie" +++

+++ Die FTD widmet sich dem Tarifkonflikt in den Printmedien: Der Streit "dokumentiert den Umbruch im Journalismus" +++

+++ Ansonsten thematisch doch eher wenig los heute: Fernsehen? Der übliche ZDF-Montagsfilm: Götz Georges Film "Papa allein zu Haus" (20.15 Uhr, ZDF) findet die FAZ (S. 31) "langweilig"; die SZ fasst so lange den Inhalt zusammen, dass am Ende kaum noch Platz für eine Wertung bleibt +++ Die FR (die BLZ ist heute morgen nicht online) interviewt ihn +++

+++ Und sonst so: Retrofernsehen bei ZDFkultur (TSP), Ashton Kutcher als Charlie Sheen (TSP), Hugh Laurie hört als Dr. House auf (SZ), die FAS porträtiert Tina Fey +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.

 

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