Kein nächster neuer Scheiß

Kein nächster neuer Scheiß


Das Denken muss auch mal die Richtung ändern: Medienkritik, Twittererziehung, Empathieempathie, Marco-W.-Verfilmungbeurteilung und Cathrin Kahlweit

Gerade noch mal im FAZ-Blog die SXSW-Austin-Erlebnisse von Teresa Bücker durchgegangen und da auf der – im Blog sehr differenziert betrachteten – Idee hängen geblieben, dass der nächste neue Scheiß die so genannte Gamification of Life sein soll.

Wie man sich das für das Feld des Medienjournalismus vorstellen kann, führt die FTD vor – mit einer spielerischen Form der Wissensvermittlung über das Leben der so genannten IT-Gurus.

Wer jetzt anmerkt, dass das doch etwas oldfashioned sei, das Quiz eine Art Pacman unter den Vorcomputerzeitalterspielen, dem können wir nicht viel entgegenhalten – außer dass diese Nächste-neue-Scheiß-Idee vielleicht einfach nicht stimmt. Oder zumindest nervt.

"Gefällt mir", könnte daraufhin Juliane Weuffen drücken, die auf Carta gegen das Rumgenörgel an Twitter zum fünften Geburtstag vor allem lebensweltlich vorgeht:

"Identi.ca? Das soll mein Twitter ersetzen? Ernsthaft? Meine Familie 2.0, die ich mir in zahllosen 'Real Life-Treffen' und auf Twitterparties zusammengefollowt habe? Und überhaupt – kennt jemand jemanden, der jemanden kennt, der einen Account bei Identi.ca hat?"

Wenn Weuffen mit ihrer trotzigen Emphase wie ein Kind wirkt, das sich seinen Spielzeug nicht wegnehmen lassen will ("macht aber Spaß"), kommt Netzökonom Holger Schmidt in der FAZ eher wie ein doch strenger, aber auch wohlmeinender Vater rüber, der dem Kind, Twitter, erklärt, dass es sich mal auf den Hosenboden setzen muss, wenn aus ihm mal etwas werden will:

"Was die Nachrichtenjunkies an Twitter so lieben, nämlich die Information in Echtzeit von Menschen zu bekommen, deren Meinung ihnen wichtig ist, ist für die Mehrheit der Menschen in dieser puristischen und rastlosen Form kein praktikables Modell. Denn wer kein stark ausgeprägtes Interesse an Nachrichten hat, für den hält Twitter keine bequemen Zugänge bereit."

Zurück zum nächsten neuen Scheiß. Die Idee davon wird, im nachrichtlichen Sinne zumindest, brüchig, wo es mehr als genug davon gibt (Japan, Libyen – Knut, der in ruhigeren Zeiten womöglich eine Titelseite hätte wert sein können).

Michael Hanfeld beruft sich in der FAZ (Seite 35) auf das Politik-Buch der Sonntags-FAZ, wo von der "affektiven" Politik Merkels die Rede war.

"Die 'affektive Politik' vor allem der Bundesregierung, von der in dieser Zeitung schon die Rede war, findet ihr Spiegelbild in den Medien. Nichts wird bis zu Ende dekliniert, es scheint, das Reiz-und-Reaktionsschema, in dem Karl Theodor zu Guttenberg und die 'Bild'-Zeitung miteinander verbunden waren, macht Schule."

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Ratlosigkeit vor dem Fernseher (TAZ)##Marco-W.-Film-Kritik (Berliner)##Verena-Wiedemann-Prozess (Berliner)##Verena-Wiedemann-Problem (Carta)##Gamification of Life (FAZ-Blog)##]]

So gern wir Hanfeld, dem man kaum vorwerfen kann, nicht einen gewissen Standpunkt zu vertreten, beipflichten wollten – vielleicht sind aktuelle Medien einfach so. Auch wenn es absurd anmutet, dass – siehe Altpapier von gestern – die Klage über die mangelnde Empathie der Deutschen fast wie ein journalistisches Format daherkommt, so verbreitet wie sie ist. Und man sich fragt, wer diese Empathie eigentlich hat vermissen lassen, wenn alle sich dessen bewusst sind, dass sie fehlt. Anders gefragt: Darf Springers WamS Entwicklungen beklagen, die Springers Bild forciert?

Ratlos ist Jenni Zylka in der TAZ, die im Kollegenkreis viel diskutiert dieser Tage. Und die Frage, ob das ZDF normales Programm machen soll (also Kochshows) oder dauerhaft senden über Japan, fast nur dahingehend beantwortet, dass sie ihre Vorlieben für ein "normales" Programm nicht verschweigt:

"Außerdem könne man, wenn man wirklich 24 Stunden durchgehend informiert werden wollte, doch auch die News-Spartensender gucken. Oder Internet. Aber könnten das nicht auch diejenigen machen, die Lust auf dämliche Telenovelas, schale Kochwitze und jubelnde ZuschauerInnen haben?"

Auch wenn wir da ebenfalls beipflichten wollten – letztlich setzt diese ganze Empathienummer doch auch nur auf Gefühle, die sich mehr oder weniger in Sendezeiten übersetzen sollten. Für die nüchtern-nachrichtliche Information braucht kein Mensch 24 Stunden ARD und ZDF über Japan.

Um Gefühle aber, wenn auch andere, geht's bei diesen schrecklichen Fernsehköchen irgendwie auch.


Altpapierkorb

+++ Um Gefühle geht es heute abend um 20.15 Uhr auf Sat.1. Dann läuft die Marco-W.-Verfilmung "Marco W. – 247 Tage im türkischen Gefängnis". Den Vergleich der Vorabkritiken würde man jedem medienwissenschaftlichen Grundkurs empfehlen, und das nicht nur, weil die große Namen der Zunft schreiben. +++ Relativ erstaunlich, für uns zumindest, ist der naive Begriff von Film in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit, den die große Barbara Sichtermann im Tagesspiegel in diesem Falle pflegt: "Ein bisschen Fummeln, und am nächsten Morgen steht die Polizei vor der Tür." Liest sich wie eine Szenenbeschreibung, gilt aber für die Wirklichkeit, auf die es, bei aller Drastik des Schicksals von Marco W., auch andere Perspektiven gibt. +++ Dass es sie in dem Film nicht gibt, ist ein Kritikpunkt von Uwe Ebbinghaus in der FAZ (Seite 35). Der stellt zudem ziemlich detailliert war, wie durch die Besetzung mit Veronica Ferres sich die Mutter von Marco W. als hyperemotionale Protagonistin in den Vordergrund schiebt: "Typisch auch die Werbeplakate für den Fernsehfilm, auf denen Veronica Ferres den hinter Gittern befindlichen Marco-Darsteller teilweise verdeckt." Ebbinghaus diskutiert darüber hinaus den dramaturgischen Sinn eines Christian-Wulff-Briefs, dessen Unsinn wiederum diesen Hannover-Horror aufriefe, indem einfach alles zusammenhängt (Wulff, Ferres, Maschmeyer usw). +++ Klaudia Wick geht in der Berliner noch weiter als Ebbinghaus, indem sie in der Reduktion auf die Opferperspektive dennoch eine gewisse Ausgewogenheit entdeckt (an dieser Stelle müsste der Seminarleiter "die hohe Kunst" rufen): "Sehr genau achtet die filmisch hochwertige und emotional dichte Inszenierung darauf, nie in ein antitürkisches Ressentiment abzugleiten - nicht selbstverständlich bei einem Drama, das den Hauptdarsteller ausschließlich als Opfer zeigt." Für das Argument spricht für den, der den Film noch nicht gesehen hat, der auffällig sachliche Titel ("Gefängnis" statt "Knast", zumal es im zugrunde liegenden Buch "Knast" heißt). +++ Christopher Keil bringt in der SZ das Dilemma mit den Emotionen auf folgenden Punkt: "Verfilmungen dieser Art sind eine Flucht, sie riskieren nichts und rechnen mit Zuneigung. Und wer wollte Marco W. die schon verweigern?" +++ Einig sind sich alle übrigens im Lob des Marco-.-Darstellers Wladimir Burlakow. +++ Antje Hildebrandt steuert im KSTA ein Treffen mit der richtigen Marco-W.-Mutter bei, die mit ihrem Mann bemerkenswert medienkritisch in Erscheinung tritt: "Das Aufnahmegerät muss ausbleiben, da ist sie kompromisslos." +++ In der TAZ ist von den angesehenen Journalisten Ahmed Sik und Nedim Sener zu lesen, die weiterhin im Gefängnis in der Türkei sitzen. +++

+++ Auch im Fernsehen: Die kritische Wasserdoku von Herdolor Lorenz und Leslie Franke ("Water makes money", 20.15 Uhr, Arte), die Torsten Wahl in der Berliner für etwas einseitig privatisierungskritisch hält. +++ Und über deren Gesendetwerden Lorenz sich selbst in der TAZ freut ("Wunder"). +++ Einen Eindruck davon, welche Kräfte in großen Fernsehapparaten wirken können, kann bekommen, wer sich die Geschichte der ARD-Generalsekretärin Verena Wiedemann durchliest, die gegen Mobbing klagt. Christian Bommarius berichtet in der Berliner. +++ Robin Meyer-Lucht disclaimet auf Carta ein mögliches Zu-persönlich-geraten-sein-Könnens seines Textes über Wiedemann, der in Wahrheit kritisch mit der Figur Wiedemann umgeht. +++

+++ "Die vier jungen Kerle sind schon eine Schau: immer sehr gut angezogen, von ansteckender Virilität, dunkelhäutig, kreativ. Allerdings steht ihnen ihre dunkle Haut –
drei von ihnen kommen aus maghrebinischen Einwandererfamilien der zweiten Generation, einer ist Zigeuner – bei ihrem Kampf um Geld und Karriere bisweilen im Weg"
– so geht der Text von Cathrin Kahlweit in der SZ (Seite 19) los, dem bei seinem Kampf um einen klaren Gedanken die eigenen weißen, abtörnend unreflektierten Limitierungen leider nicht nur bisweilen im Weg stehen. +++ Apropos Vorurteile. Wasser auf die Mühlen von Claudius Seidl dürfte diese Meldung auf Welt-Online sein: "Käßmann wird Gastmoderatorin bei '3nach9'". +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.
 

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