"Irgendwie rau"

"Irgendwie rau"

Und bald dann das "Tagebuch der Aishe A." Während der Feiertage haben sich Reaktionen auf Thilo Sarrazins ganzseitigen Unsinn in der FAZ angesammelt - und auch sonst geht es um Fragen wie: Wie zettelt man eine Debatte an, was macht eine Debatte aus?

Größte Themenhäufigkeit, meiste Energie darauf verschwendet, prominenteste Plätze in den Zeitungen: Die Mediendebatte - also die Mediendebatte über die Mediendebatte - ist das Thema des Tages.

Das liegt auch daran, dass am 24. Dezember die Wildsau des Jahres 2010 nochmal die Seite 1 des Feuilletons der Frankfurter Allgemeine Zeitung mit Werbung für sein eigenes Buch vollschreiben durfte (das Altpapier berichtete).

Aber nicht nur daran. Es liegt auch daran, dass Thomas Tuma die Debatte über die Debatte im Spiegel weiterdenkt ("Aishe - furniert", siehe auch, äh, Foto) und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung sich den Focus in seiner Funktion als Debattenblatt vornimmt.

Doch beginnen wir bei der Causa Sarrazin, für deren Aufarbeitung (unter anderem) kürzlich ja FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher einen Preis bekommen hat - was man auch als Preis für die Setzung der elegantesten Blinklichter verstehen kann: Während Bild und Spiegel Sarrazins Buch vorabdruckten, bevor sie es hinterfragten der Spiegel es hinterfragte, nahm Schirrmacher es erst einmal auseinander, bevor er bald Sarrazin Seite um Seite widmete: Interview, Begleitung auf der Frankfurter Buchmesse, jetzt der Gastautorenbeitrag.

Sarrazin sprach darin u.a. von seiner Verachtung für seine Kritiker, u.a. für die Bundeskanzlerin, die angeblich erklärt habe, "'das Buch sei nicht hilfreich'" und die es "auf den Index (setzte), so wie es früher die Heilige Inquisition tat"; und er monierte eine "beispiellose Medienkampagne".

Reaktionen auf diese Selbstverteidigung blieben nicht aus, denn gerade den größten Mist will man ja nie einfach so stehen lassen - vielleicht ist das schon das ganze Geheimnis der Sarrazin-Debatte. Und sieht man etwa von Bild ab, die im affirmativen Bereich bleibt, sind die Reaktionen auf Sarrazins FAZ-Text weitgehend ablehnend.

Jakob Augstein, Verleger des Freitag*, kommentierte die Entscheidung der FAZ noch am 24.12. online:

"Ihre Entscheidung am Weihnachtstag die Aufmacherseite des Feuilleton einem Rassisten zu übergeben, ist eine Provokation. Die Zeitung geht dabei weit unter ihr eigenes Niveau."

Die taz, die das von Sarrazin in der FAZ kritisierte Wort vom "Sudel-Thilo" prägte (Robert Misik verwendete den Begriff "Sudel-Thilo" am 1.9., übrigens neben den von Sarrazin lieber nicht erwähnten Sätzen "Sarrazins Thesen sind verwirrt, hochnäsig, verletzend, gespickt mit verächtlichen Formulierungen gegenüber den 'Losern'. Dabei ist er auf eine Weise eingebildet, die schallendes Gelächter provozieren müsste"), ist durchaus geneigt, Sarrazins Behauptung, es gebe eine "beispiellose Medienkampagne", zuzustimmen. Der Fernsehproduzent Friedrich Küppersbusch, der Montag für Montag das Geschehen der vergangenen Woche einordnet, sagt dort:

"Der lustige Thilofant am Montag bei Beckmann, Mittwoch bei Plasberg, Donnerstag und Sonntag Thema bei Illner und Will; und Montag auf den Titeln von Focus und Spiegel. Letzterer und Bild hatten zuvor seine Texte unkommentiert wie ungeprüft vorabgedruckt. Das kann man 'beispiellose Medienkampagne' nennen, schon recht."

Lorenz Maroldt dekonstruiert im Tagesspiegel-Leitartikel vom Sonntag dagegen ein zentrales Argument des Buchautors:

"Die Bundeskanzlerin hat seine Äußerungen – nicht sein Buch, wie er behauptet – als wenig hilfreich bezeichnet. In einer repräsentativen Funktion mochte sie ihn deshalb nicht mehr gerne sehen."

Und in der Süddeutschen Zeitung schreibt Klaus Brill den Leitartikel auf Seite 4 über Migration als Selbstverständlichkeit und schafft es, den Namen Sarrazin dabei nicht zu erwähnen, obwohl dieser darin herumwabert, etwa am Schluss: "Migration ist menschlich, aber sie verlangt Toleranz, Dialog und Verständigung. Instanzen wie die Heilige Inquisition oder al-Qaida braucht sie sicher nicht."

[listbox:title=Artikel des Tages[Lorenz Maroldt über Sarrazin##Friedrich Küppersbusch über Sarrazin##Jakob Augstein über Sarrazin]]

Bliebe die FAZ, die ja "kein monolitischer Block" ist und am heutigen Montag - wieder auf Seite 1 des Feuilletons, wenn auch nicht ganzseitig - den wirtschaftswissenschaftlichen Doktoranden Danyal Bayaz zu Wort kommen lässt, der eine kommunikationswissenschaftliche Metaebene in die Sarrazin-Debatte einzieht und sie auf Schlüsselereignisse und Nachrichtenwerte abklopft (S. 23):

„Je mehr dieser Nachrichtenwerte ein Ereignis erfüllt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass darüber ein öffentlicher Diskurs geführt wird. In diesem Fall werden gleich drei der wichtigsten Kriterien der Nachrichtenlogik erfüllt. Erstens Personalisierung: Die Debatte ist fest verbunden mit der Person Thilo Sarrazin. Zweitens Konflikt: Eben diese Person stützt ihre Argumente auf ein Menschenbild, welches dem ihrer Partei diametral gegenüber steht. Drittens Prominenz: Dass das Ganze noch aus der Feder eines Vorstandes einer der glaubwürdigsten Institutionen der Bundesrepublik stammt, macht das Schlüsselereignis perfekt."

Womit wir bei der Frage wären, wie man, wenn man die Theorie doch schon kennt, das mal praktisch nutzen könnte: Thomas Tumas Satire im Spiegel (S. 110ff.), die sicher nicht der unlustigste Spiegel-Text dieses Jahres ist, handelt davon. Szenario: Er reicht im Januar anonym den Anfang des Manuskripts "Das Tagebuch der Aishe A." bei bekannten Literaturagenten ein, man findet den Text "echt" und "irgendwie rau", und Suhrkamp erhält den Zuschlag.

"Wie üblich sichern sich SPIEGEL und 'Bild' die Vorabdruckrechte. Die 'Frankfurter Allgemeine' ist so beleidigt, dass sie die herannahende 'Lolitaliban-Masche' beschimpft und unautorisierte Auszüge druckt, die Aishe als nymphomane, frauen- wie türkenhassende Irre aussehen lassen."

Fehlt noch Focus, um den Blick auf das Debattenjahr abzurunden.

"Seit Wolfram Weimer vor einem halben Jahr die Chefredaktion übernommen hat, ist eine politische Verortung rechts von der Konkurrenz Teil des Versuchs, das Blatt wiederzubeleben", schreibt Stefan Niggemeier in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (S. 25), der, Zitat, "die Illustrierte" dort in ihrer Funktion als - Unterzeile - "einsames Kampfblatt gegen den Mainstream linker Weltretter" betrachtet.

Und nebenbei steht hier auch alles, was man über die politischen Verteidiger Sarrazins wissen muss:

"Sie glauben, dass sie für eine schweigende Mehrheit sprechen, wenn die längst laut grölt."


Altpapierkorb

+++ Seymour Hersh im taz-Interview +++

+++ Das andere Thema des Tages: die Besprechung des ZDF-Films "Racheengel" im Tagesspiegel, in der Berliner Zeitung, in der taz und in der FAZ (S. 27) +++

+++ Der Bundespräsident hat die nächste Stufe gezündet und beschlossen, für seine Weihnachtsrede so zu tun, als würde sie Kinder interessieren. Anja Maier hat die Inszenierung für die taz zerlegt: "Der Weichzeichner umnebelte die nach Berlin angereisten patenten Männer und Frauen, die Nonnen und Pfadfinder, die Vorzeigemigranten, dass es eine Freude war. Und da, unten auf dem Teppich des Bellevue, lümmelten Kinder sonder Zahl, die einfach mal Ruhe gaben und aufmerksam Onkel Christians Rede lauschten. Da fiel es erst gar nicht auf, dass von der Protokollabteilung auch die eine oder andere Uniform unters Volk gemischt worden war - so einschläfernd war die Rede zwischen Christbaum und Flagge. Soldaten und Matrosen fing die Kamera ein, die ebenfalls gebannt lauschten. Schön gerade die Seitenscheitel, fusselfrei die Uniform, leicht nach oben gerichteter Blick. Ehrenamtliche wie die anderen?" +++

+++ Rock'n'Roll: Auch an dieser Stelle feiern wir heute das heutige 10-Jährige der Sendereihe "Die NDR-Quizshow" (NDR Fernsehen) nicht. Die Funkkorrespondenz verweist auf seine Existenz wie auf alle weiteren Fernsehgeburtstage zwischen 14. Oktober und 31. Dezember (hey, dann läuft die 200.000 "Tagesschau", gibt es jetzt übrigens auch als App!) +++

+++ Aha. Soziale Netzwerke und so sind blöd: Spannende neue These in der NZZ: "Gesellschaftlich ist es heute fast schon akzeptiert, dass Leute in privaten Runden oder Geschäftssitzungen parallel zum Gespräch auf dem Handy tippen. Sie bloggen, twittern oder chatten, schärfen mit dieser Hintergrundaktivität ihr Online-Profil. Das geht auf Kosten der real anwesenden Menschen und ist nicht anständig." +++

+++ Der KSTA über eine deutsch-türkische Debatte über "Die Darstellung der Rolle der Frau in den Medien", mit allen offenbar immer benötigten Gedankenverhinderungsanreizen von "modern und rückständig zugleich" bis "Kulturkampf" +++

+++ Die SZ (S. 17) über 3-D-Kinoprojekte der Constantin +++ Und ebd. über die mutmaßlichen Veruntreuungen beim Kika +++

+++ Der Tagesspiegel befasst sich mit Webcomics +++ Die taz noch einmal mit Ungarns Mediengesetz +++ Sowie u.a. die Berliner Zeitung mit den Buchplänen von Wikileaks-Grüner Julian Assange +++

 Das Altpapier stapelt sich morgen wieder.

*Der Autor ist derzeit beim Freitag beschäftigt.

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