Enthüllungen enthüllt

Enthüllungen enthüllt

Die Wikileaks-Kooperationspartner, darunter Der Spiegel, veröffentlichen geheime Dokumente - aber ein geheimer Informant enthüllt den Spiegel-Titel schon vor der Veröffentlichung. Außerdem: die Wirklichkeit, wie RTL sie sieht


Wie wahrhaftig ist die Fiktion? Zum Jubiläums-"Tatort" gab es am Samstag noch, unter anderem, zwei Medienseiten in der Süddeutschen Zeitung dazu, u.a. mit einem Text von Barbara Gärtner, die dem "Tatort" nicht ihre ganze Medienjournalistenliebe geschenkt zu haben scheint, aber vielleicht genau deshalb angenehm nüchtern bleibt. Sie analysierte (S. 22) die "Tatort"-Filme nach der Großwetterlage der Zeit, in der sie spielten:

"In den bürgertumsfixierten Siebzigern litt die bessere Fernsehgesellschaft am Schwund von Moral. (...) In den Achtzigern reisten die Finsterlinge aus dem Ausland an, die Kriminalität war plötzlich international, die Kommissare zogen sich ins Private zurück. (...) Später kam das Übel aus Russland. Die Mauer war gefallen, der Osten Europas stand offen, die Deutschen fürchten sich. Mittlerweile sind sogar die Fahnder korrupt. Doch es werden vor allem die Alibis derer überprüft, die nicht mittelschichtsbrav leben: Biobauern, Sektenmitglieder, Börsenspekulanten."

Wenn aber nun das Jubiläum des Krimis vorüber ist, bei dem manchmal Realität und Fiktion verschränkt werden, was bleibt dann? Wirkliche Kriminalität. An dieser Stelle aufgedröselt in Wirklichkeit. Und Kriminalität.

Bevor wir zur Kriminalität - Stichwort Wikileaks - kommen, zunächst zur Wirklichkeit. Oder wie RTL sie nennt: Reality. Reality steht etwa im selben Verhältnis zu Wirklichkeit wie History zu Geschichte, weshalb man einen ähnlichen Text, wie Stefan Niggemeier ihn für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (S. 33) schrieb, vielleicht auch über Guido Knopp schreiben könnte. Der FAS-Artikel aber handelt von RTL - und von der Verbannung der Wirklichkeit aus dem Programm. Konkret, u.a., handelt er von "Das Supertalent", der Show, die - das ist vielleicht interessant für ARD-Programmdirektor Volker Herres - "sensationelle Einschaltquoten" erreicht:

"Die Sendung ist konsequent fiktionalisiert. (...) Natürlich waren Shows immer schon Inszenierungen und Illusionen. (...) Aber RTL sprengt mit dem 'Supertalent' alle Konventionen. Die Auftritte, die im Rahmen der Show gezeigt werden, stammen nicht einmal von derselben Aufzeichnung. (...) Fernsehen war und ist nie ein bloßes Abbild von Realität. Aber beim 'Supertalent' ist Realität nur noch ein Rohstoff, der fast beliebig modelliert werden kann."

Während das Fernsehen also auf seine Wirklichkeitsnähe abgecheckt wird, nimmt sich Josef Joffe, Herausgeber der Zeit (und damit mit dem Tagesspiegel näher bekannt), im Tagesspiegel unter der beliebten Rubrik "Was macht die Welt" der wirklich großen Themen an: Die Welt sei wieder ein Stück krimineller geworden, findet er. Denn die Welt hat Wikileaks, und Wikileaks hat etwa "250.000 geheime US-Dokumente" veröffentlicht:

"Wikileaks lebt von den Freiheiten, welche die liberale Demokratie gewährt. Just diesen Staat will der Verein in seiner Hochmut schwächen. In dem Sinne ist das kriminell."

Wolfgang Michal wusste wohl schon vorher, dass das jemand sagen würde, und listete am Samstag bei Carta noch einige andere zu erwartende Medienreaktionen auf, als da wären (in Auswahl und in anderer Reihenfolge):

•\t"Das war doch alles schon gaaaanz lange bekannt"
•\t"Das ist extrem gefährlich"
•\t"In Dokument Nr. 1.345.678 wurde der Name eine korrupten Politikers nicht vollständig geschwärzt"
•\t"Wie notwendig sind eigentlich Staatsgeheimnisse?"
•\t"War diese Veröffentlichung vielleicht der wahre Hintergrund für die Anschlagsdrohung 'Ende November'?"
•\t"An Weihnachten ist doch eh alles wieder vergessen."
•\tUnd: "Brauchen wir einen verantwortlichen Daten-Journalismus?"

Haben wir einen verantwortlichen Daten-Journalismus? Der Spiegel bejaht, jedenfalls kann man die "Hausmitteilung" der aktuellen Ausgabe als Bejahung der Frage interpretieren. Darin (stellenweise übernommen in einen umfassenderen Spiegel-Online-Artikel) heißt es über die Veröffentlichung ausgewerteter Dokumente:

"Abzuwägen ist in solchen Fällen das Nachrichteninteresse der Öffentlichkeit gegen berechtigte Geheimhaltungsinteressen des Staates. Das hat der SPIEGEL getan. Wie bei den vorangegangenen Veröffentlichungen hat der SPIEGEL das Material unabhängig ausgewertet, analysiert, aufbereitet und alles dafür getan, solche Informanten zu schützen, die womöglich um ihr Leben oder ihre Freiheit fürchten müssten. Die Redaktion hat – wie andere beteiligte Medien auch – unter anderem das Weiße Haus und das State Department, aber auch die amerikanische Botschaft in Berlin um Stellungnahmen gebeten (...). In einigen Fällen brachte die US-Regierung Sicherheitsbedenken vor, manche Einwände hat der SPIEGEL akzeptiert, andere nicht."

Der Spiegel gehörte, wie schon bei den vorherigen Großenthüllungen der Whistleblower-Plattform, zu den Wikileaks-Kooperationspartnern, und hat daher in Deutschland die Dokumente ausgewertet und stand - es gab eine Sperrfrist - erst am Sonntagabend als E-Paper zur Verfügung. Er lag am Sonntag auch (eigentlich) noch nicht am Kiosk.

So wirklich erst am Sonntagabend erschien das Magazin allerdings dann doch nicht:

"Für kurze Zeit war heute Nachmittag ein Artikel bei Spiegel-Online zu sehe, der 'Fragen und Antworten' lieferte, was der für Morgen Abend um 23:00 Uhr angekündigte Wikileaks-Release der 'US-Diplomatendepeschen wirklich aussagen' soll. Vermutlich handelte es sich um einen CMS-Bedienungsfehler, denn der Artikel verschwand schnell wieder von der SpOn-Webseite",

schrieb etwa das Blog netzpolitik.org am Samstagabend und war damit nicht einmal das schnellste. Die daraufhin verbreitete Kopie des Spiegel-Online-Artikels und jener, der heute bei spiegel.de online steht, unterscheiden sich in einigen Formulierungen. Und während Wikileaks heute Thema der vorderen Zeitungsseiten ist, ist die Spiegel-Online-Vorabveröffentlichung Thema von Medienseiten und Blogs:

Die taz etwa wollte wissen, welcher Art das Leck war. Jedoch: "Egal wen man am Sonntag bei Spiegel Online (SpOn) anrief, niemand mochte Auskunft über das Leck bei den Wikileaks-Enthüllungen geben." Niemand außer einer: "Wie es dazu kam, ob das Wikileaks-Leak Absicht oder Versehen war, will die stellvertretende SpOn-Chefredakteurin Jule Lutteroth nicht kommentieren."

[listbox:title=Artikel des Tages[Guardian-Veröffentlichungen via Wikileaks##Spiegel.de-Veröffentlichungen##Kathrin Passig über das Lesen und Bücher (Merkur)]]

Zudem wurde - Ironie der Geschichte - das eigentlich noch unenthüllte Cover des aktuellen Spiegels vorab enthüllt; in Basel soll das Magazin schon, wie üblich, am Samstag statt am Sonntagabend am Kiosk erhältlich gewesen sein, twitterte einer seiner Käufer, der sich Freelancer_09 nennt (siehe Bild oben) und der sich auch nicht lumpen ließ, die eine oder andere Passage zu zitieren und eine Seite ("Angela 'Teflon' Merkel") auf den Scanner zu legen.

Blöd gelaufen für den Spiegel? Vera Bunse findet bei Carta: durchaus. "18:28 Uhr", schrieb sie am Sonntag (wohl um 18.28 Uhr), als die offizielle Veröffentlichung nach wie vor bevorstand: "Ist ja schon ein wenig peinlich. Alle berichten. Nur der Spiegel nicht."

Markus Beckedahl sieht es bei netzpolitik.org etwas anders:

"Für den Spiegel ist das Vorab-Release nicht ganz so unglücklich, wie es aussehen mag. Man verliert jetzt zwar Klicks und damit Werbeeinblendungen auf diesen Artikel. Aber: Im Moment ist man die einzige Originalquelle und gegenüber den anderen Wikileaks-Kooperationspartnern New York Times, Guardian, Le Monde und El País ist man dadurch insofern im Vorteil, dass alle internationalen Berichte nun den Spiegel als Quelle zitieren."

Wenn selbst Focus Online nicht um die Quelle Spiegel herumkommt, könnte da wohl was dran sein.


Altpapierkorb

+++ Es gibt mehr über Wikileaks und die aktuellen Veröffentlichungen zu sagen - etwa das Onlineangebot des Guardian, das jenes des Spiegels "um Längen" (netzpolitik.org) schlage, wobei der Spiegel sich auf Printveröffentlichungen konzentriert +++ Ebenfalls bei netzpolitik.org verlinkt sind die mittlerweile online stehenden Wikileaks-Veröffentlichungen, auch jene aus der "Embassy in Berlin" und über die US-Einschätzungen des deutschen Innenministers +++

+++ Kaum ein Medium kommt heute ohne das Thema aus. Welt Online findet die Veröffentlichungen sehr gefährlich: "Hier geht es um nationale Sicherheit – und das nicht nur für die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Weitere Mittlere Osten, vom Mittelmeer bis zum Persischen resp. Arabischen Golf ist auch ohne Wikileaks gefährlich und trügerisch genug, und jeden Tag kann dort wieder Krieg ausbrechen. Kein Mensch kann sicher sein, dass nicht in den nunmehr offengelegten Dokumenten sich jener Stoff verbirgt, der aus einer Krise den Krieg entstehen lässt." +++ FAZ.net porträtiert Bradley Manning, der des Geheimnisverrats verdächtigt wird +++

+++ Konstantin Neven DuMont diesmal im Spiegel-Porträt (S. 184ff., Neuigkeiten in einer von Spiegel Online enthüllten Vorabmeldung), in dem der schöne Satz steht: Er "kommt in Sandalen zur Tür geschlurft. Er trägt Cordhose, das Haar ist verwuschelt. Er lächelt freundlich, bereit, sich wieder einmal um Kopf und Karriere zu reden." Und wer will, kann einen Zusammenhang zwischen Neven DuMont und Wikileaks herstellen: "Zwar verabredeten Vater und Sohn (Neven DuMont; AP) am Telefon, ihren Streit nicht mehr öffentlich auszutragen. Immer wieder sprach Konstantin dann doch mit Journalisten, legte beinahe täglich nach. 'Ich bin für Offenheit', sagt er."

+++ Personalien: über ein "Maskottchen der Boulevardpresse", ebenfalls im Spiegel – Johannes Heesters wird 107 (S. 182 ff.) +++ Domenika Ahlrichs, ehemalige Chefredakteurin der Netzeitung und damit auch ehemalige Chefredakteurin des "Altpapier", wird stellvertretende Chefredakteurin von Zeit Online +++ Stefan Raab und Anke Engelke "sollen" (Spiegel) das Finale des Eurovision Song Contest 2011 moderieren +++

+++ Die Schweiz hat über die Ausweisung straffällig gewordener Nichtschweizer abgestimmt (etwa taz.de, sueddeutsche.de). In diesem Zusammenhang: Cigdem Akyols Porträt von Weltwoche-Chef Roger Köppel in der Sonntaz +++

+++ Aufsätze: Kathrin Passig lesenswert im Merkur über das Lesen und Bücher in Zeiten des Internets +++ SPD-Medienpolitiker Marc Jan Eumann in der Funkkorrespondenz über Netzneutralität +++

+++ Programmreformen, mal umfassender, mal weniger groß: Der geplanten Reform der Deutschen Welle nahm sich am Samstag die FAZ (S. 44) an, die schreibt: Komme es zu dieser Reform, "bleibt beim deutschen Auslandsfunk kein Stein auf dem anderen" +++ Ebenfalls die FAZ (S. 44) berichtete am Samstag (nach dem Dokumentarfilmplatz der ARD) über unbestätigte Dokumentationspläne des ZDF: "Die ARD äschert ihren letzten großen Platz für Dokumentationen im Hauptabendprogramm ein, das ZDF macht das Gegenteil." +++ Die Berliner Zeitung greift der Talkprogrammplanung der ARD vor +++ Talk- und Dokumentationsprogramm verbindet auch die SZ in einem Artikel (S. 15) +++

+++ Fernsehprogramm: Sollen Prozesse im Fernsehen übertragen werden, wie vergangene Woche vom Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle vorgeschlagen? Klaus Tolksdorf, Präsident des Bundesgerichtshofs, warnt (SZ, S. 15) vor Überöffentlichkeit +++ "Ladylike", den "nun wirklich letzten Film mit Monica Bleibtreu" (FAZ, S. 31), besprechen FAZ, SZ (S. 15) und TSP +++ Letzterer bespricht auch "Lornas Schweigen" (Arte) +++ Die taz über "Wir sitzen im Süden" (ZDF) +++ Die BLZ
über Miriam Stein, Schauspielerin im Fernsehfilm "Neue Vahr Süd" +++
 

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.

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