Ohne die alten Radiostars gekillt zu haben, zieht sich MTV ins Pay-TV zurück. Doch außer Bezahl-Ideen schießen im medialen Ökosystem auch neue Gratis-Ideen aus dem Boden. Außerdem: welche Qualitätszeitung heute das Rentenalter erreicht.
Neue Bezahl- , aber auch neue Gratis-Inhalte schießen im womöglich teilweise vom Umkippen bedrohten Ökosystem unserer Medien aus dem Boden
Neu bezahlbar (bzw. seit kurzem jenseits des Testbetriebs): der Text-Shop spredder.de. Im meedia.de-Interview erzählt Hajo Schumacher, dass zum Beispiel "die Jungs von Carta" Interesse hätten, mitzumachen, und vielleicht sogar Henryk M. Broder und Eckart von Hirschhausen. Ob der sympathische Alles-Mögliche-mit-Medien-Mediziner, der an seinen Aufgaben wächst wie sonst nur die Leber, wirklich mitmacht, um pro Zeichen zwei weitere Cent einzustreichen, bleibt allerdings ein wenig offen.
Neu gratis im Netz: "bis zu 40 Videos pro Tag", sowohl deutsche wie auch internationale News-Videos (2.500 im Monat laut kress.de). Das gilt für Kunden der Nachrichtenagentur DAPD, berichtet vor allem Agenturenexperte Daniel Bouhs in vermutlich noch ungespredderter Mehrfachverwertung in TAZ und (ausführlicher) bei meedia.de sowie in seinem Tickerblog ebd.:
Da die "extrem vermögenden Eigner" (meedia.de) von DAPD, Martin Vorderwülbecke und Peter Löw, damit einen "riesigen Köder" für Kunden auslegen, werde es "für die DPA ... eng" (TAZ).
Ihrem Agenturbericht über die vorerst einschneidendste Bezahl/Gratis-Verschiebung, von der gestern die FTD (inzwischen frei online) kündete, die Umwandlung des Musikkanals MTV in ein Pay-TV-Angebot, hat die DAPD scheinbar noch kein Video beigegeben.
Passende Videos kann sich natürlich jeder selbst ergoogeln: "Money for Nothing" von den Dire Straits etwa ("I Want My MTV"), oder das notorische "Video Killed The Radio Star" der Buggles, das anders als die TAZ meint sehr wohl bei Youtube zu haben ist. Das muss man sich bloß mit diametral umgekehrten Vorzeichen denken. Denn wenn der einstige Videosender hinter Bezahlschranken verschwindet, kommt der ewige Phil Collins immer noch auf 250 deutsche Radio-Einsätze pro Tag, wie schon vor Jahrzehnten, wurde kürzlich im Umfeld des "Deutschen Radiopreises" publik (siehe etwa bei Björn Czieslik).
Sehr verbreitet auch die DPA-Meldung zum Thema. Aber gibt es medienjournalistische Meinungen zu MTVs Strategiewechsel (unser Foto zeigt übrigens die amtierende vielfache MTV Video Music Award-Preisträgerin Lady Gaga)?
"MTV ist damit der erste der etablierten Sender in Deutschland, der sein Geschäftsmodell von Werbefinanzierung auf Bezahlangebot umstellt", schreibt der Tagesspiegel verlautbarungsnah. Doch das sei "ein Risiko. Die Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen gilt als die 'Generation Gratis', die Inhalte wie Musik, Serien, Kino im Netz sucht und illegal, sprich kostenlos nutzt.".
Der bunte Strauß an Meinungen, den die Welt eingeholt hat, reicht von "Das ist ein wohlüberlegter strategischer Schritt“ des Unternehmensberatungsgeschäftsführers Klaus Goldhammer bis zum Verdikt des Finanzdienstleister-Medienanalysten Peter Thilo Hasler:
"'MTV ist kein Musiksender mehr, sondern ein Quatschkanal, der heute nur noch einen geringen Prozentsatz der Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen erreicht'.... Es sei kaum vorstellbar, dass die ohnehin oft zahlungsschwachen Jugendlichen bereit seien, für dieses Angebot zu bezahlen."
Da hakt die TAZ in ihrem ebenso latein- wie punkrockkundig improvisierten tazzwei-Sammelartikel ein: "Das Image der Jugendlichkeit", das MTV anhaftet, sei ein Irrtum. Dass MTV aus dem Free-TV verschwindet,
"fällt nicht nur vielen Älteren nicht auf, sondern auch fast allen 'Jüngeren' - denn die sind längst im Internet. Wenn das Verschwinden des 'Jugendsenders' überhaupt jemandem auffällt, dann der mit MTV aufgewachsenen Generation zwischen 30 und 40. Jetzt, da MTV in die schmuddelige Abstellkammer des Bezahlfernsehens verbannt ist, schließt sich der Kreis und beißt sich die Schlange in den Schwanz: Es muss für Werbung bezahlt werden! Damit hat die alte kapitalistische Umwälzpumpe einmal mehr ganze Arbeit geleistet. Die Postmoderne ist endgültig vorbei. Und MTV wird weiterlaufen - als hippes Zitat auf flachen Fernsehern in uncoolen Boutiquen."
Hingegen wird auf hippen, coolen, flachen Computern weiterhin die Post abgehen. Ganz frisch wirft ein "Ökosystem", in dem "die Leidenschaft der Journalisten, Designer und Fotografen für ihre Inhalte mit derselben Leidenschaft der Anwender in einer digitalen Welt" zusammengebracht werden könnten (heise.de via DPA) erste Schatten voraus.
"Mag10 Publishing GmbH" heißt die Firma , die das anstellen möchte, und wird von Marco Börries, einem der deutschen Software-Erfolgsmenschen (und vermutlich überhaupt nicht zu verwechseln mit Helmut Hoffer von Ankershoffen), sowie von Jochen Wegner geleitet. Um Magazine fürs iPad geht's.
Vorerst beschäftigt die Medienblogger jedoch der im gleichen Atemzug angekündigte, nicht unspektakuläre Abschied des jonet.org-Gründers Wegner, eines "Großen im Internet-Journalismus" (evangelisch.de), von seinem Posten als Focus Online-Chefredakteur.
"Nach Uli Hegge kommt Burda/Tomorrow Focus mit Wegner schon der zweite exzellente Web-Kenner in kurzer Zeit abhanden, der zudem als einer der wenigen Journalisten Ahnung von Technik hat", schreibt FAZ-Netzökonom Holger Schmidt. "Wegner war... eigentliche Kopf in Burdas Digitalstrategie", würde Christian Jakubetz sogar sagen.
Und Thomas Knüwer schießt noch schärfer gegen Burda, dessen Online-Abteilung gerade vom führenden Verlags-Manager Philipp Welte "mehr oder weniger zum Todeskandidaten degradiert" worden sei. "Wie immer sind es die schnellsten Ratten, die als erste das sinkende Schiff verlassen", schreibt Knüwer ein wenig missverständlich, aber doch auf Wegners Seite (während sich unten drunter in den Kommentaren eine lebhafte Debatte entspannt, in der ein anonymer Praktikant wiederum gegen Wegner und focus.de schießt).
[listbox:title=Artikel des Tages[DAPDs Video-Köder (meedia.de)##Meinungs-Cocktail zu MTVs Strategiewechsel (Welt)##Das Ende der Postmoderne (TAZdazu)##DSF/ Sport1 weg aus DVB-T (BLZ)##Wegner weg von Burda (FAZ-Netzökonom)##Alles Gute zum 65., SZ! (beißende Satire?)]]
Ein norddeutsches Gegenstück zum süddeutschen Focus, der Stern, wird indes von seinem Art Director verlassen. Donald Schneider befasst sich künftig nicht mit irgendwas mit Publishing, sondern geht gleich zu H&M (wiederum meedia.de).
Zumindest also scheint der Stern, was immer man sonst von ihm hält, für Artdirektoren ein ideales Sprungbrett in die Branchen zu sein, in denen das Geschäft und die Gehälter wirklich brummen. Schneiders Vorgänger bis 2008, Tom Jacobi, grüßt heute mit hanseatischem Kaufmannslächeln aus der Vorstandstetage des Immobilienbusiness.
Altpapierkorb
+++ Am 6. Oktober 1945 um 10.45 Uhr erhielten August Schwingenstein, Franz Josef Schöningh und Edmund Goldschagg aus der Hand des amerikanischen Colonel Bernard B. McMahon die Lizenz für das, was wir heute als Süddeutsche Zeitung in Händen halten. Und weil es ja nicht wahr sein kann, dass deren Medienseite aus diesem Grund "prominente Leser" wie Günther Jauch, Claus Kleber, Maria Furtwängler und Kurt Beck ("Rente mit 67, das darf und kann es für die SZ nicht geben! Denn mit wem sollten wir sonst durch den Alltag streifen?... Wer bringt uns Licht in das tägliche Nachrichtenwirrwarr, provoziert, argumentiert, lässt uns Schmunzeln?") gefragt haben kann, was sie denn der SZ zum Renten-Geburtstag wünschen, muss es sich hierbei um äußerst hintersinnige Satire handeln. +++
+++ Ins Fernsehen: "Vielleicht ist es ein Problem von ZDFneo, dass alle, die sich für 'Mad Men' interessieren, 'Mad Men' schon gesehen haben", schreibt Matthias Kalle mit Recht in seiner ansonsten etwas langatmigen Entschuldigung, warum er selbst die so sehr gehypte US-Serie "nicht gut" findet (Tsp.). +++ "Denn längst ist 'Mad Men' hierzulande Kult", formuliert die FR denselben Sachverhalt volksnäher. +++ "Es ist das großartige Ensemble, das den Reiz der Serie ausmacht, und die langsame, lakonische, nie effekthascherische Erzählweise" (FAZ, S. 33). +++ "'Mad Men' ist die einflussreichste TV-Serie seit dem Mafia-Epos 'Die Sopranos' und ist von diesem Mittwoch an im Free TV bei ZDF Neo (22.30 Uhr) zu sehen und läuft bereits im Pay-TV-Angebot von Sky" (SZ, das Interview mit Hauptdarsteller Jon Hamm einleitend). +++ Hamm sagt darin dann: "Heute sammeln sich die Zuschauer nicht automatisch vor dem Fernseher, sondern konsumieren die Shows, wo sie wollen, auf DVD, im Netz oder als Pay-TV. Die Kreativen müssen ihr Konzept also nicht mehr auf das Massenpublikum zuschneiden, sondern können ihre Ideen über verschiedene Kanäle einer kleineren Zielgruppe zugänglich machen. Heute bestimmen nicht mehr die Werbekunden, was gesendet wird, sondern das Publikum. Die Macht der Mad Men ist Geschichte". +++
+++ Sport1, der Fernsehsender formerly (and better) known as DSF, hat "heimlich, still und leise" seine Verbreitung über das digitale Antennenfernsehen DVB-T eingestellt, die er sowieso nur in Berlin betrieben hatte. Das entdeckte Torsten Wahl für die Berliner Zeitung, als er das jüngste Hertha-Spiel gucken wollte (0:0 gegen Alemannia Aachen). Einer der Hintergründe: "Mit der gegenwärtigen DVB-T-Technik in Deutschland funktionieren keine Bezahl-Modelle." +++
+++ Anlässlich des "ersten #Shitstorms" in Udo Reiters Leben (siehe auch Altpapier gestern), der es auch zu Prominenz bei bild.de brachte, erläutert sueddeutsche.de die Unterscheidung zwischen "Lifecasting" und "Mindcasting", die professionelle Journalisten bedenken sollten. +++
+++ In der FAZ (S. 33) steigt Michael Hanfeld in die von Henryk M. Broder im Tsp. angezettelte Debatte über eine womöglich nur vermeintliche deutsche Jüdin, die im ARD-Magazin die israelische Politik kritisierte, ungewohnt unentschlossen ein ("Man mag die Geschichte vielleicht für Religionsklauberei halten und sollte nicht verschweigen, dass bei 'Monitor' noch andere jüdische Aktivisten aufgetreten sind, die etwas gegen die Blockade-Politik Israels unternehmen. Doch hat Broder einen Punkt"). +++
+++ Ferner im Fernsehen heute und relativ wenig besprochen: der ARD-Wirtschaftskrimi "Im Dschungel". "Hat viele starke Momente", meint die FAZ. Die BLZ lobt den vielleicht aus Dominik Grafs "Im Angesicht des Verbrechens" bekannten Hauptdarsteller Roland Zehrfeld unter der Überschrift "Mit Leben gefüllt". +++
+++ Kaum hat Filmveteran Klaus Lemke die Abschaffung der Filmförderung gefordert (siehe Altpapier vom Donnerstag), wird "hinter den Kulissen ...in Berlin bereits eifrig diskutiert, wie der deutsche Film besser gefördert werden kann" (Handelsblatt). +++
+++ Und die Kollegen Kolumnisten: Die "Verlinkt"-Kolumne der BLZ mokiert sich über zu mathenahen data driven journalism. +++ In der TAZ enthüllt die Kriegsreporterin, dass die Gruner+Jahr-Brigitte viele oder gar alle PauschalistInnen gekündigt habe, dass der Deutsche Fernsehpreis in die Kreisklasse absteigt (aufsteigt?) und dass die Spiegel-Chefredakteure vielleicht zu viel segeln gehen... +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.