Kritik der reinen Vernunft

Kritik der reinen Vernunft

Der Umgang mit den neuen Medien fällt hierzulande schwer. Das zeigen nicht nur die notorischen Kulturpessimisten, sondern die, die etwas davon verstehen sollten.

"Twitter tauscht Chef aus", titelt wenig sensibel die FTD. Auf Mitgründer Evan Williams folgt Dick Costolo, der bisherige Leiter des operativen Geschäfts.

"In einem gemeinsamen Interview am Montag sagten beide, Twitter sei an einem kritischen Punkt angelangt, an dem andere Führungsqualitäten gefragt seien."

Wer ab Donnerstag den Facebook-Film "The Social Network" gesehen haben wird, dessen massenhafte Besprechung den Eindruck erweckt, er sei bereits seit Donnerstag im Kino zu sehen, wird einen recht plastischen Eindruck von diesem kritischen Punkt bekommen. In "The Social Network" fragt sich nämlich selbst Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg, was das eigentlich ist, das er da erfunden hat und auf das die Menschen so abfahren, dass er mit der Monetarisierung durch Werbung anders als sein früher Finanzier und Geschäftsführer noch warten will.

Und was ist Twitter eigentlich? An der Social-Media-Erklärung übt sich in der SZ der kluge Technologie-Erklärer Dirk von Gehlen. Und zwar in dem er, wiederum, konkurriende Erklärmodelle – von Twitter-Befürworter Clark Shirky und Twitter-Skeptiker Malcolm Gladwell – gegeneinander liest.

Etwa am Beispiel von politischem Engagement, von dem Gladwell behauptet, dass es das durch Social Media gerade nicht gebe:

"Den Beleg für diese These sucht Gladwell ausgerechnet in dem Beispiel, das Menschen wie Clay Shirky gerne nutzen, um die politische Kraft der sozialen Medien zu beweisen: die demokratischen Demonstrationen in Iran im Sommer 2009, die angeblich dank Twitter überhaupt erst möglich wurden. Stimmt nicht, sagt Gladwell und fragt ketzerisch: Wieso hätten die Menschen in Teheran ihren Protest auf Englisch unter dem Schlagwort iranelection organisieren sollen und nicht in ihrer Landessprache Farsi? Die Geschichte vom iranischen Protest sei vielmehr ein westlicher Medienhype."

Zu einem Fazit kommt Gehlen dabei nicht ("Man wird also vorerst nicht abschließend beurteilen können, ob das soziale Engagement in Netzwerken tatsächlich so wertlos ist wie Gladwell schreibt"), weckt aber doch viel von dem Verständnis, das hierzulande in Bezug auf neue Medien nicht so leicht zu haben ist. Über Gladwell heißt es:

"Er ... würde seine Kritik niemals mit Begriffen wie Geschwätzigkeit oder Banalität belegen wollen. Dass soziale Netzwerke die Gesellschaft verändern, scheint für Gladwell wie für Shirky unbestreitbar. Es geht ihnen lediglich um den Grad der Veränderung."

Twitter-Skeptiker meint in diesem Falle also nicht kulturpessimistische Technikverdammung, die – neben dem Unbehagen an der prominenten medialen Figur – dem Autor Sascha Lobo in den Kritiken seines Buchs "Strohfeuer" entgegenschlägt (obwohl die des Tagesspiegel, der das Buch heute gemeinsam mit dem Facebook-Film rezensiert, nicht dazu gehört).

Daniela Zinser hat Lobo für die TAZ getroffen.

"Die ersten Kritiken sind meist vernichtend. Das hat das Buch nicht verdient - es ist keine große Literatur, aber eine kluge, unterhaltsame Satire. Doch ob FAZ oder Welt, es ist eine Häme, die man selten liest im Feuilleton. Die ganze Abneigung der Kulturszene gegen Lobo scheint in die Rezensionen gepackt. Die Kritiker machen dabei kaum einen Unterschied zwischen Stefan, der unsympathischen Ichfigur im Roman, und Sascha Lobo."

Als Erklärung für die Abneigung, die der Debütant Lobo bei Kritikern hervorruft und die so groß zu sein scheint, dass die literaturwissenschaftliche Binsenweisheit der Trennung von Autoren- und Erzählerfigur in Vergessenheit gerät, beschreibt Zinser die Geburt des medialen Figur Sascha Lobo aus dem Geiste einer Diplomarbeit:

"Damals im Studium erdachte er für ein Diplomprojekt einen Medienhelden, den Instant Media Hero, der plötzlich überall auftaucht und mit seiner Frisur auffällt. 'Das Projekt liest sich zum Teil wie eine Blaupause für das, was mir später, ich sag mal: passiert ist', sagt Lobo. Einige Strategien und Mechanismen von damals habe er sich gemerkt. Der Rest: Zufall, Glück."

Dass es der hiesigen Medienkompetenz an Kompetenz mangelt, zeigt nicht nur die Sauertöpfigkeit einiger Kritiker, sondern auch die Dämlichkeit von Leuten, die in diesem Bereich Geschäfte machen wollen.

Der Fall des WeTab-Promoters Helmut Hoffer von Ankershoffen – der wie der Blogger Richard Gutjahr am Wochenende enthüllte, positive Amazon-Kommentare seines Geräts unter dem Namen "Peter Glaser" und, mit dem Account seiner Frau, als "Claudia Kaden" geschrieben hat –, wirft eine schwer zu beantwortende Frage: Soll man über die Naivität entsetzt sein, dass jemand glaubt, mit gefakten Bewertungen, zumal unter dem Namen eines Internetprominenten, tatsächlich durchzukommen? Oder ist spricht gegen das Vertrauen in jemanden, der Tablet-Rechner produzieren will, nicht vielmehr der Umstand, vom Häkchen-Setzen im eigenen Amazon-Profil schon überfordert zu sein?

Immerhin, das Social Netzwerk, dass sich auf Facebook um WeTab gebildet hat, unterhält sich prächtig:

"Mario Nette: Ich schlage diese Website/dieses Forum für den Grimme Online Award vor. Viele Monate Spannung, unglaublich viel zu lachen und kaum zu überschätzende Verdienste beim Aufzeigen der Spielregeln für diejenigen, die meinen, die Menschen im Zeitalter des Web 2.0 manipulieren und vor ihren Karren spannen zu können. Und nie weniger als gut 20.000 Zuschauer."

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Twittern aus Protest? (SZ)##Sascha Lobo, Instant Media Hero (TAZ)##Deutsche Seriensehgewohnheiten (Berliner)##"Bild"kämpft sublokalst (TAZ)##]]

Während der Tagesspiegel unterschwellig die offenbar doch funktionierende Selbstkontrolle bei Amazon in Frage stellt, offenbart die Wunschliste von Ankerhoffens Frau ein Interesse für die geistige Munitionierung gegen eine Welt, in der Geschäfte wie das ihres Mannes möglich sein sollten.

Twittern beherrscht MDR-Intendant Udo Reiter seit kurzem zwar, nur mit dem Humor ist es nicht weit her. Gestern, wie etwa Welt-Online seinen Kommentatoren zum Trotz meldet, twitterte "mdrreiter":

"Einheitstag 2030: Bundespräsident Mohammed Mustafa ruft die Muslime auf, die Rechte der Deutschen Minderheit zu wahren."

Was soll man sagen? Dass es, wenn schon, "christliche Minderheit" heißen müsste, wie nicht nur dem Twitterer "feuertinte" aufgefallen ist? Und was macht Reiter? Bezieht sich darauf, den Satz aus einem gezeichneten Witz und als "Joke" gemeint zu haben.

Armseliger ist nur die Erklärung von Ankerhoffen, der mittlerweile den Fehler eingesteht, unter falschem Namen geschrieben hat, zu seiner Beurteilung seines Geräts aber "inhaltlich" weiterhin steht.


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+++ Den schwierigen Stand der Serienausstrahlung in Deutschland resümiert Sarah Mühlberger in BerlinerFR zum Start von "Leverage" auf Vox (dazu auch Andrea Diener in der FAZ, Seite 33), und vor allem "Mad Men" auf ZDFneo. +++ Ein skurriles Interview mit dem Godfather of epische Serie, David "Twin Peaks" Lynch, hat Wilfried Urbe für die TAZ geführt. +++

+++ Der FAZ-Fernsehblog widmet sich der eigenwilligen Publikums- und Quotenrezeption von Thomas Gottschalk. +++ Steffen Grimberg entdeckt in der TAZ total sublokales Engagement der "Bild"-Zeitung in Potsdam, wo "Springer-Vorstand Mathias Dö." und "Bild-Chef Di." wohnen. +++ Manfred Bissinger wird 70: Willi Winkler gratuliert differenziert und ausführlich in der SZ (Seite 15). +++ Ulrike Simon ebenso in der Berliner. +++

+++ Im Fall des auf eine falsche Quelle in der Pariser Banlieue hereingefallenen Magazins "Le Point" findet Jürg Altwegg in der FAZ (Seite 33) eine bemerkenswerte Pointe, nicht etwa dem Qualitätsjournalismus Qualitätsmängel zu attestieren, sondern die Schuld auch dafür noch der Banlieue zuzuschieben: "Für 'Le Point' ist die gespielte Polygamisten-Gattin peinlich, der Fall illustriert aber vor allem die Arbeitsbedingungen für Journalisten in den Banlieues. Solange sie genauso feindlich wie Polizisten behandelt werden, bleiben Klischees bestehen – und werden bestätigt." +++ Da kann man wohl nichts machen. +++

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