Die Wirklichkeit ist manchmal leichter zu ertragen, wenn man sie nicht so ernst nimmt: ARD-Talkshows, Google Street View, Beckmann, Jo Groebel. Gilt wohl nicht für: Rheinischer Merkur
Um gleich zum Punkt zu kommen: Journalistisches Highlight des Tages ist naturgemäß die Welt-Online-Bilderschau "Prominente und Sternchen auf der Wiesn". Hammer, ehrlich.
Von Daniela Katzenberger über Charlotte Knobloch über DJ John Jürgens über Horst Seehofer (mit was auch auf immer auf der Nase) über Wolfgang Fierek bis zu, can't believe it, Richard Clayderman (der auch noch voll inkognito aussieht und wie eine Mischung aus Hubertus Meyer-Burckhardt und Andreas Dresen). Wenn die Bilder von Rainald Goetz wären, könnten wir von einem deutschen "Sittengemälde" reden am Ausgang des Jahrzehnts, das wir einmal die Nuller Jahre nennen werden. Wenn Fritz J. Raddatz die Bildunterschriften gemacht hätte, würden wir von einem "Gesellschaftsroman" des deutschen Kulturbetriebs schwärmen, der mit bösartigen Bonmots das Kettenkarussell befeuert, auf dem wir unsere Runden überm Jahrmarkt der Eitelkeiten drehen:
"Fußballprofi Stefan Effenberg und seine Frau Claudia sind immer gerne dabei, wenn es etwas zu feiern gibt."
Und genau so, Sie ahnen es, sieht Effe dann auch aus.
Vom Rausch zurück in den Ernst des Lebens. Es gibt Dinge, die so absurd sind, dass man sie sich nur noch satirisch vom Leib halten kann: Talkshows in der ARD etwa.
André Mielke schreibt auf Welt-Online unter der Überschrift "Vorsicht, Satire":
"Einstweilen ist nicht geplant, die Bestände jagdlich zu regulieren. Abgelehnt wurde auch das Angebot des chinesischen Staatsfernsehens, Anne Will gegen einen Pandabären zu tauschen. Sandra Maischberger soll ihren Sendeplatz sogar behalten dürfen, wenn sie dienstags mit Gästen (Will, Plasberg, Beckmann) darüber debattiert, worüber Jauch am Sonntag debattieren könnte."
ARD-Programmdirektor Volker Herres befand ja bekanntlich: "Talk ist geil im Fernsehen, die Leute mögen das." Daraus kann man, wie TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester es tut, durchaus ein prekäres Verhältnis zwischen Herres und der Sprache ableiten:
"Ich bitte, diesen Satz langsam im Hirn mal so rumzudingsen. Das ist fast wie mit Bahn fahren. Oder auf Arbeit. Unabhängig davon, dass es als altmodisch gelten mag, 'geil' im Sinne seiner Bedeutung zu verwenden, frage ich mich, was an Talk geil ist. Klar ist, die ARD ist ein geiler Sender, Tom Buhrow ein geiler Moderator. Aber Talk ist geil? Im Fernsehen? Ich finde, Talk ist eine Menge. Aber nicht geil."
Als führendes Satiremagazin in Deutschland empfiehlt sich jedoch die Welt. Die hat noch einen Burner parat, an dem Stefan Niggemeier sich auf seinem Blog die Zähne ausbeißt: Denn wie anders, wenn nicht als subtil-s-t-e Ironie ließe sich Paul Jandls Versuch erklären, Google Street View jetzt auch noch vorzuwerfen, dass es die Literatur kaputtmacht, weil man die Orte anschauen kann, die in Büchern beschrieben sind?
"Die autobiografische Erzählung ist Literatur mit Schauplatz. Google ist bloßer Schauplatz. Ohne Aura, reine Plattheit! Will man rufen und Datenschutz fordern."
Ein Mann der Bildung und der Kultur, der Jandl als Autor des Welt-Feuilleton unzweifelhaft ist, kann so eine linkische Verknüpfung doch ernsthaft unmöglich herstellen wollen. Dafür spricht auch das Proust-Zitat am Ende seines Textes, das mit einem feinen Sinn für Selbstironie in der Ironie der satirischen Argumentation den Boden unter den Füßen wegzieht, auf dem sie eh nur schweben wollte:
"'Hätten meine Eltern mir erlaubt, den Schauplatz eines Buches, das ich las, selber aufzusuchen, so hätte das meiner Meinung nach einen unschätzbaren Fortschritt in der Eroberung der Wahrheit bedeutet'", schreibt Marcel Proust."
[listbox:title=Die Artikel des Tages[Das Ende des Rheinischen Merkur (TAZ)##Nichts als die Wahrheit (SZ)##Sind Talkshows geil? (TAZ)##Kapitulierende Journalisten (SZ)##Wie die anderen wohnen (TSP)##]]
In Prousts Worten steckt doch die ganze Sehnsucht des Literaten, der sich nach nichts als Realität sehnt, aber schreibend immer wieder auf Distanz zu ihr geht. Von nichts anderem spricht auch Rainald Goetz, der bestimmt irgendwann einen Google-Street-View-Romanbildband vorlegen wird.
Außerdem war die Welt ja zuletzt mit Jack Kerouac und Google unterwegs.
Zur Erheiterung trägt neuerdings offenbar auch Reinhold Beckmann bei:
"Bei ihm (Jochen Gauck, AP) wie bei Steinbrück machte sich eine in solchen Sendungen selten gesehene gute Laune bemerkbar, als würden sie es wirklich genießen, mit Reinhold Beckmann am Tisch zu sitzen."
Nils Minkmar über die Talkshow vom Montag in der FAZ (Seite 37) von heute. Und Sonja Pohlmann informiert im Tagesspiegel dankenswerterweise über Einrichtungsseiten, dank derer man im Internet gucken kann, wie's bei anderen Leuten zu Hause aussieht.
Etwa bei Jo Groebel, den man in unseren Kreisen ja nun nicht vorstellen muss. Besonders faszinierend: diese beigen Bände mit den Initialen "JG" – Notizhefte? Tagebücher? Unveröffentliches? Bonmots?
Man müsste Fritz J. Raddatz fragen, welche Eitelkeit sich dahinter verbirgt.
Altpapierkorb
+++ Haben wir gerade Eitelkeit gesagt? Peter Hahne im Tagesspiegel-Interview über 100 Tage "Peter Hahne" im ZDF: "Und an Stefan Mappus oder Claudia Roth kam abends kein TV-Sender vorbei, weil sie bei mir exklusiv aufgetreten sind." +++
+++ Jetzt ist Schluss mit lustig. Der "Rheinische Merkur" lebt ab dem nächsten Jahr wie angedeutet (siehe Altpapier von gestern und vorgestern) nur mehr als Beilage der "Zeit" fort. Über den Abonnentenstamm, den er mitbringt, gibt es divergierende Angaben (von 12. bis 36.000). Es berichten eigentlich alle. In der FAZ (Seite 37) eigens der Katholische-Kirche-Korrespondent Daniel Deckers: "Der christlich-konservative 'Rheinische Merkur' galt daher seit langem als abschreckendes Lehrstück für die Unfähigkeit der Kirche, ihre Kräfte zu bündeln. Mithin stand und fiel die Wochenzeitung mit der Bereitschaft der Gesellschafter, den Verlag mit Subsidien in Millionenhöhe zu stützen – zuletzt mit 4,5 Millionen Euro im Jahr." +++ In der TAZ Steffen Grimberg: "Unklar bleibt bei alldem, welche Rolle die Erzdiözese Köln und ihr erzkonservativer Bischof Joachim Kardinal Meisner beim Ende des Rheinischen Merkurs spielen. Im Sommer hatte es geheißen, Meisner sei wegen der ihm zu liberal erscheinenden Berichterstattung des Merkurs nicht mehr zum weiteren Engagement bereit und würde das Geld lieber in seine Bistumspresse stecken. Denn dort habe er mehr Einfluss. Die Bischofskonferenz dementierte derlei Gerüchte natürlich als 'Unsinn'." +++ Auch Tagesspiegel und SZ. +++
+++ Vor welchen Problemen der Journalismus in der, wie es scheint, vom organisierten Verbrechen beherrschten Ciudad Juarez steht, schildert eindrücklich ein wenn auch kurzer Text von Peter Burghardt in der SZ. +++ Die FAZ erklärt im Feuilletonaufmacher die Haubitze unter den digitalen Waffen, mittels derer wohl Atomkraftewerke attackiert werden können (Seite 37). +++ Die SZ hat den Mainzer Klinikchef Norbert Pfeiffer interviewt, der nach dem Tod von drei Säuglingen in seinem Haus über Erfahrungen mit der Wahrheit als Strategie im Medienrummel spricht. +++ Die Berliner stellt das israelische Soldatenradio Galgalatz vor. +++
Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.