Schland schon wieder ganz begeistert? Zumindest von einer Welle vorübergehender Politikunverdrossenheit erfasst, Gauck, Twitter und dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen sei Dank. Außerdem: Gratulation, Kurt Kister.
Eigentlich müssten an dieser Stelle heute gewichtige Gratulationen ausgesprochen oder dokumentiert werden, an Kurt Kister, den künftigen Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung ("eine so gute Nachricht, dass man gar nicht weiß, wo man mit den Begründungen eigentlich anfangen soll", jubiliert Claudius Seidl in der FAZ). Oder nach Gütersloh zum nach offizieller Berechnung exakt heute 175-jährigen Bestehen des Bertelsmann-Konzerns.
Doch dann kam gestern die schwere Geburt des neuen Staatsoberhauptes dazu. Die war auch unter Medien-Gesichtspunkten hochinteressant.
Das hatte einerseits mit Twitter zu tun, das einige der zahlreichen öffentlich-rechtlichen Berichterstatter so zitierten, als sei es so etwas wie die DPA, aus dem sich in jedem Fall halt Nachrichten schöpfen lassen. Twitterer @tlom seufzte mit Recht:
"'Twitter' is ja auch eine geile Quellenangabe. So wie 'Fax' oder 'Telefon' oder 'aus nem Brief' oder ... oh man .... *seufz*".
Andererseits und noch viel mehr hatte es mit dem Fernsehen zu tun. Das wollte die gerade sowieso überall vorhandenen Apparaturen zum Public Viewing oder zumindest die Nähe der - gestern ebenfalls ungenutzten - "Fanmeile" zur Bundespräsidentenwahlstätte zwecks Zuschauerbindung benutzen. Und stellte vor dem Reichstag gleich noch eine Großleinwand auf, vor der dann weitere öffentlich-rechtliche Reporter von Passanten weitere Stimmungsbilder erfragen konnten.
Die vorab zumindest am Rande herrschende Befürchtung, ob auch diese Präsidentschaft wie die letzte wieder mit "unwürdiger Geschwätzigkeit" und "einem Eklat" (sueddeutsche.de) beginnen würde, nutzten gestern die alten Scherzkekse von der Titanic, um mit einem (noch nicht abgeschalteten) Fake-Account der tatsächlich zur Präsidentenwahl ausgewählten Schauspielerin Martina Gedeck Verwirrung zu stiften. Welche Qualitätsmedien mit ihren Internetauftritten gern darauf hereinfielen, während sich bei skeptischeren Zeitgenossen (auch auf Twitter!) die Ahnung eines Fakes verdichtete, dokumentiert die Titanic zum Durchklicken.
Mehr zum Gedeck-Gag bei SPON, weitere twitternde Spaßvögel nennt die Berliner Morgenpost.
Mehr nachhaltigere Wirkung hätte die Titanic freilich erzielt, wenn sie statt des genau falschen den wahren Ausgang des ersten Wahlgangs antizipiert hätte.
Den aber hatte niemand erahnt, auch Spiegel-Chef Georg Mascolo nicht (wie Stefan Niggemeier gern dokumentiert). Den hatte wohl auch niemand von den echten Wahlbefugten getwittert. "Dieses Mal lag Twitter daneben - Ergebnisse blieben geheim", konnte morgenpost.de unsinnig triumphierend vermelden.
Dass niemand wirklich Brisantes zum Thema twitterte, hinderte natürlich nicht daran, trotzdem alles, was sich so aus dem "Twitternetz" (ARD-Jargon) aufschnappen ließ, weiterzugeben. So sorgten auch Blumensträuße für ein wenig Furore, die entweder Twitterer live im Reichstag oder in den Fernsehberichten von dort erblickt haben (oder die sogar erst Fernsehkommentatoren erblickten und dann die Aufmerksamkeit auch von Twitterern drauf lenkten...).
Jedenfalls wussten die Fernseh-Experten, die aus Erfahrung wissen, wo im Parlament normalerweise Sträuße aufbewahrt werden, dies sofort so zu bewerten, dass im ersten Wahlgang eine Entscheidung gefallen sei und gleich jemandem - dem Gewinner oder dem Verlierer, da waren sich die Experten dann wieder uneins - Blumen überreicht werden würden.
[listbox:title=Artikel des Tages[Wer auf die Titanic-Gedeck hereinfiel (Titanic)##Denkzettel fürs Privat-TV (focus.de)##Doch nur kleiner Gauck-Hype (netzpolitik.org)##TAZ über die neue SZ-Chefredaktion]]
Man kann den äußerst zahlreichen Experten, die für die ARD, zeitweise das ZDF und natürlich Phoenix überraschend stundenlang aus dem Reichstag (und um den Reichstag herum) berichten konnten oder mussten, für ihre würdige Geschwätzigkeit keinen Vorwurf machen. Schon allein, dass am Nachmittag der tägliche "Sturm der Liebe" ausfiel, dürfte für die Akzeptanz der Rundfunkgebühren mehr getan haben als jede von der GEZ geschaltete Werbung.
Stattdessen gehört auch das Privatfernsehen zu den Denkzettel-Empfänger von gestern, meint Josef Seitz (focus.de).
Ebenfalls lesenswert zum Thema: das "kleine Resümee über die Rolle des Netzes bei dieser Wahl", bzw. zum doch eher "kleinen Hype um Gauck", das netzpolitik.org zieht:
"Ich gehe nicht davon aus, dass die Netzaktivitäten viel Einfluß bei dieser Wahl gehabt haben. Viel wirkungsvoller dürften die traditionellen Medien gewesen sein, die Gauck sehr schnell hochgeschrieben haben. Aber trotzdem lustig, dass in Medienkreisen dem Internet mittlerweile soviel Bedeutung zugeschrieben wird..."
Beachtet werden muss natürlich, dass Markus Beckedahl dieses Resümee um 15.44 Uhr zog - mehr als fünf Stunden, bevor die Wahl dann endlich entschieden war.
Altpapierkorb
+++ Jetzt aber: Glückwunsch, Kurt Kister. Er ist, "kurz gesagt... die Antithese zum Typus des gut organisierten, höchst repräsentablen und dabei politisch unverbindlichen Redaktionsmanagers, der sich in den vergangenen Jahren in den deutschen Newsrooms breit gemacht hat". Dieses wohl größte oder zumindest sinnvollste Kister-Lob steht auf kress.de. +++ "Künftig leiten ein begnadeter Zyniker, eine Arbeitsbiene und eine Polit-Edelfeder als Stellvertreter die 'SZ'", fasst die TAZ zusammen. Miz der Biene ist Wolfgang Krach gemeint, mit der Edelfeder Heribert Prantl. +++ Prantl wäre "zu gerne" selbst Chefredakteur geworden. Ulrike Simon (BLZ/ FR) versucht schon mal, ein wenig künftiges Konfliktpotenzial zu identifizieren. +++ "Die Auflage der SZ sank 2009 um zwei Prozent auf 438.100 Stück" (FTD). +++ Als Chefredakteur vereidigt wird Kister übrigens am 1. Januar 2011. +++
+++ Frisch reingekommen zum Thema BPW (Bundespräsidentenwahl): eine Meinung von Patrick Bahners persönlich. "Das Fernsehen hatte sich während der stundenlangen Live-Übertragung nicht darauf verstanden, die echte Spannung des Geschehens zu transportieren", schreibt er auf faz.net unter topaktueller Überschrift ("Elfmeterschießen mit kaltblütigem Abschluss"). Es handelt sich aber vorrangig um eine konventionelle Plasberg-Besprechung. +++
+++ Noch 'ne Gratulation fällig? Vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist Wolfram Weimer ab heute offiziell Chefredakteur beim Focus. "Geht es ihm wirklich gut dabei?", fragte sich Marc Felix Serrao (SZ) , während er mit Weimer ein wenig in alter "jetzt"-Manier ("Das Café Puck... ist ein Ort, an dem die schönen Mädchen bei gutem Wetter viel zu große Sonnenbrillen tragen") einen Spaziergang durch München unternahm. Wer frei online mehr von Weimer lesen möchte, muss weiter zum gestrigen FR-Interview klicken, das heute im KStA steht. +++
+++ Gestern verkündeten die ARD-Intendanten Ergebnisse ihrer jüngsten Sitzung. Traditionsbewusste Medienseiten tun ihre Pflicht und vermelden (Tagesspiegel). In der SZ (S. 23) gibt sich Christopher Keil "verblüfft", dass Günter Netzer "vorzeitig verabschiedet" werde, obschon er doch noch beim Viertelfinale Holland gegen Brasilien auf- und erst anschließend abtreten wird. +++ Der FAZ sind die Fußball-Personalien egal, sie ärgert sich erwartungsgemäß über die ebenso erwartungsgemäßen Geld-Verlautbarungen. +++
+++ Wenn von "BP-Boykott" oder "BP Reporter" die Rede ist, geht es nicht um den Bundespräsidenten, sondern den Ölkönzern. Mit Tom Seslars Blog beschäftigt sich in der SZ Willi Winkler: "Wenn er seine Texte vom verunreinigten Meer ins Internet kippt und für die Firmen-Website Planet BP schreibt, bezeichnet er sich als 'BP-Reporter'. Gibt es ihn wirklich? Leider, schreibt ein Sprecher aus der BP-Zentrale in London, leider sehe man keine Möglichkeit, 'persönliche Details über diese Reporter zu nennen'." +++ Auch ein Thema heute: Larry King, bzw. Abgesänge (Tagesspiegel, FAZ) auf den Talk-Veteranen. +++
+++ 175 Jahre Bertelsmann. Vielleicht hatte man sich in Gütersloh nach dem Starauftritt Hartmut Ostrowskis beim Kölner Medienforum etwas mehr Medienaufmerksamkeit für diesen Anlass versprochen als bloß einen Artikel in der Gütersloh-Ausgabe der Neuen Westfälischen. Immerhin, handelsblatt.com gestaltete die "spannende Familiensaga in Bildern", also zum Durchklicken. Bertelsmann selbst bietet im Netz eine neue "interaktive Chronik". +++
+++ Am Rande des Medienforums wurden gestern abend die neuen Grimme Online-Preise verliehen. Und zu einem der inhaltlich spannenderen Themen des Kongresses, der neuen Hybris (oder passt das Wort hier nicht?) zwischen Fernsehgerät und Internet, steht ein lesenswerter Artikel in der aktuellen Funkkorrespondenz. +++
+++ Herrje, die Blogger-"Welt kompakt" ist heute auch erschienen (Video). Am völlig "falschen Tag" (meedia.de), nachrichtlich betrachtet, "trotzdem ist dem Blogger/Redaktion-Team eine der spannensten Ausgaben des Jahren gelungen." +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag