Digitales Gruselkabinett

Digitales Gruselkabinett

Gaza, Lena...: Antisemitsmus aus völlig unterschiedlichen Anlässen zählt zu den Dingen, die im Netz boomen. Was es in puncto Meinungsfreiheit gerade etwas schwerer hat: Horst-Köhler-Satiren.

"nacktfotos, hamas, Israelis Celebrating, juden hitler, juden...":

Danach wurde gerade gesucht auf dem Internet-Service openbook, den die Berliner Zeitung heute vorstellt.

Dort können "alle öffentlichen Facebook-Kommentare auf Stichworte hin durchsucht werden - also all jene Beiträge, die von den Nutzern nicht 'für Freunde' oder 'Freunde von Freunden' freigegeben worden sind, sondern für 'Alle'", erklärt Marin Majica. Die BLZ suchte, wie gerade offenbar viele, nach antisemitischen Einträgen und zitiert einige davon. "Sie stammen zum größten Teil von Usern offensichtlich türkischer oder arabischer Herkunft aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Gedacht waren die Kommentare wohl nur für die jeweiligen Facebook-Freunde der Autoren. Lesen kann sie nun allerdings jeder".

Ein ganz neues digitales Gruselkabinett, das sich zu jedem beliebigen Suchwort und zu jedem beliebigen Zweck - Aufklärung, Affirmation, Entertainment... - verwenden lässt. Die BLZ weist daraufhin, dass angemeldete Facebook-Nutzer rassistische Kommentare "für 'Alle'" ja auch per Button an Facebook melden können.

Die TAZ weist heute nicht nur darauf hin (wie auch NDR Info), dass die rechtsextreme NPD Journalisten von der Berichterstattung über ihren Parteitag in Bamberg ausschloss ("Leider gehören Sie zu der Sorte Journalisten, die im Umgang mit der nationalen Opposition den presserechtlichen Sorgfaltspflichten zuwider handeln.").

Sie weist auch auf einen anderen aktuellen Antisemitismus-Anlass hin: "Nachdem Israel Lena mit null Punkten bedachte, ging im Netz die Hetze gegen Juden los". Damit ist auch nicht der gestern ebd. mit Recht polemisch beklagte "Grand-Prix-Faschismus" gemeint. Es geht um Grand Prix-Begleit-Erfahrungen des Bloggers Jörg Marx bei Twitter und wiederum Facebook, die er auch mit Screenshots dokumentierte.

Anschließend machte Marx übrigens weitere, ziemlich verwirrende Erfahrungen ("Gestern abend rief mich Herr Sahm von haGalil an. Es tat ihm leid, mich ins antisemitische Lager einsortiert zu haben, nur weil ich über Antisemitismus berichtet und dafür antisemitische Kommentare geerntet hatte"), um die es in der TAZ dann nicht mehr geht.

Was also dringend nötig wäre: Entwirrungsstrategien.

Und auch die werden, wie ja alles, im Internet angeboten. Sogar im Namen eines Aufmerksamkeits-Shootingsstars, auf horst-koehler-consulting.de. Leider enthüllen Blicke auf den erläuternden Text oder allerspätestens den farblich abgehobenen Disclaimer untendrunter ("Diese Seite ist voll und ganz Satire. Leider muss ich das hier unten hinschreiben, damit Menschen, die Angst haben nicht genügend respektiert zu werden, darauf hin nicht mit Anzeigen um sich schmeißen"), dass dieses Angebot nicht ernst oder bloß satirisch gemeint ist.

"Bereits wenige Stunden nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten ging die auf den ersten Blick seriös wirkende Homepage www.horst-koehler-consulting.de online, auf der vermeintlich Horst Köhler selbst seine Beratungsdienste in der freien Wirtschaft anbot",

schreibt die TAZ und erzählt dann die Story der Webseite des ihr verbundenen "Kinderclowns, Friedensaktivisten und Kolumnisten" Jean Peters, die nach anfänglichem Klick-Erfolg unter merkwürdigen Umständen zeitweise aus dem Internet und "selbst bei Google" verschwunden war.

"Der Rostocker Spezialist für Internetrecht, Johannes Richard, sagt: 'Es ist äußerst ungewöhnlich, dass eine erfolgreiche Website mit einem offenbar satirischen Inhalt sowohl vom Provider als auch aus dem Google-Cache spontan so spurlos verschwinden kann. Das hört sich danach an, als ob es hier ein Interesse von höchster Stelle gibt.'""

[listbox:title=Artikel des Tages[BLZ über Openbook und Antisemitismus auf Facebook##TAZ über Antisemitismus wg. ESC##... über Schwierigkeiten einer Horst Köhler-Satire##horst-koehler-consulting.de##Großes Löschen im öff.-rechtl. Netz (heise.de)##Warum Shows nicht mehr 90 Minuten dauern (BLZ)]]

Dass "Köhler oder auch nur einer seiner Anwälte am Folgetag seines Rücktritts nichts Besseres zu tun haben sollte, als einen witzigen Medienauftritt zu vereiteln", das glaubt dann aber auch die TAZ nicht. Sie zitiert dann bloß noch Richard mit der Aussage, "dass die Meinungsfreiheit, die ja ein sehr hohes Gut ist, auch im Netz zunehmend mit Füßen getreten wird."

Mit solchen Füßen getreten wird ja aber sowieso sehr vieles im Netz.

 


Altpapierkorb

"Nur 138 Zeichen beim Kurznachrichtendienst Twitter. Aber sie sind mitverantwortlich für das Schicksal Horst Köhlers": Gestern abend ist die Bloggerstory ums Köhler-Interview auch im heute-journal des ZDF (Video) angekommen. In diesem gut dreiminütigen "Lehrstück über Politik im Zeitalter des Internet" tritt auch Christopher Ricke, der im Endeffekt dann ebenfalls für Köhlers Schicksal mitverantwortliche Deutschlandradio-Reporter, auf. +++ meedia.de, das gestern die Ereignisse um die "Goebombe" (siehe Altpapier) als "Twitter-Lehrstück" aufbereitete, erstaunte in Sachen Köhler gestern ferner mit einem Beitrag unter dem poetisch-philosophischen Titel "Die Entfernung der Medien von der Welt". Es geht um "eine gewisse Entfremdung der Medien-Öffentlichkeit von der tatsächlichen Öffentlichkeit", die Twitter für eine Eissorte (besser als für eine Geschlechtskrankheit...) hält. +++

+++ Große Politik: Wie die potenzielle Köhler-Nachfolgerin Ursula von der Leyen angeblich für 1,6 Millionen Euro das Image ihres aktuellen Ministeriums aufbessern möchte, entnahm das Handelsblatt einem "internen geheimen Strategiepapier". +++ Rundfunkpolitik: Der WDR läutet wg. Rundfunkänderungsstaatsvertrag "das große Löschen" ein (heise.de). +++

+++ Fernsehen: Ein Fußballspiel dauert im Prinzip 90 Minuten, wenn es kein Ausscheidungsspiel ist und am Ende unentschieden steht. Fernsehshows dauern längst viiiiel länger. "Das führt manchmal dazu, dass dreistündige Unterhaltungsshows den Zuschauer geradezu zum Zappen zwingen, weil sie anderweitig kaum auszuhalten wären" (Peer Schader, BLZ). +++ "Der Auftrag von Tagesschau und Tagesthemen ist es, die Menschen in Deutschland fit zu machen für den nächsten Tag in Bezug auf Information." (ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke im sueddeutsche.de-Interview). +++ Das deutsche Fernsehexpertenwesen beim Fußball bleibt, wie es ist. Dazu wird Jürgen Klinsmann das Seine beitragen (Tagesspiegel). +++ Aber falls bei GNTM mal ein neuer Juror gesucht werden sollte - Frederik Hanssen vom Tsp. ("Beeinflusst der Lena-Hype den Ausgang von "Germany’s Next Topmodel"?") könnte in Betracht kommen. +++

+++ Zukunft der Medien: Was Steve Jobs gerade dazu sowie zu seinem Sexleben sagte, recht ausführlich im Handelsblatt. +++ Was wird aus all dem, was da "so kreucht und fleucht im Journalistenzoo"? Es wird "aufgespalten in Prominenz und Prekariat" und "muss sich heute zurechtmachen, sich als Marke kreieren", wenn es zu ersterem gehören möchte. Es wird aber trotzdem noch "gebraucht" (Tom Schimmeck, magda.de). +++ Über erstes Flattr-Geld freuen sich, mehr oder weniger, Carta und TAZ. +++

+++ Süddeutsche, FAZ und einige andere Zeitungen sind heute wegen des katholischen Feiertags Fronleichnam nicht erschienen. +++ Schon wieder eine raffinierte Marketingidee der Überflieger von bild.de: "Das Mannschafts-Foto zum Ausdrucken! (Zum Vergrößern und Ausdrucken bitte auf das Mannschaftsfoto klicken!)"
 

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag



 

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