Die NRW-Wahl interessiert noch immer Stimmenzähler und Medientrainer. Außerdem: alles über das Internet.
Gestern abend bei "Beckmann" reingeschaut (noch nicht in der Mediathek). Und wie so oft vollends fasziniert gewesen von: Reinhold Beckmann. Der, wie es seine Natur ist, knallhart nachfragt, voll deep im Stoff.
Und dabei vor allem immer "ich" sagt. Ganz so, als ob er die Frage, die er stellt, und die zumeist gar keine Frage ist, selbst herbeigedacht hat. Das führt wiederum zu der Frage: Wer spricht da, wenn Reinhold Beckmann "ich" sagt? Die Antwort: Das "Ich" von Reinhold Beckmann sagt nur Sachen, die schon verbrieft sind, weil alle anderen sie schon gesagt haben. Im Fußball wären das etwa Thesen wie: "Bastian Schweinsteiger ist jetzt gereift". Oder: "Im Spiel des FC Bayern kann man die Handschrift Louis van Gaals erkennen." Und in der Politik dann eben: "Westerwelle benimmt sich immer noch wie in der Opposition."
Das Beckmann-"Ich" ist folglich eine Art Maßeinheit, mit der man die Originalität von Gedanken messen kann.
Zu dem Text von Lorenz Jäger in der FAZ etwa würde Beckmann nicht "Ich" sagen.
"Jedenfalls gibt es eine neue Rhetorik der Niederlage. Mag sein, dass es sich nur um den allerneuesten, von Medientrainern angelernten Kunstgriff der Eliten handelt, aber eher ist es wohl so, dass auch diese wissen: Die Zeiten der Beschönigung sind zu Ende."
Zu neu ist die Feststellung, dass Politiker nach der Wahl in NRW weniger euphemistisch über Wahlergebnisse reden, weil sie den "glänzenden Essay" des Germanisten Mathias Mayer gelesen haben, "Die Kunst der Abdankung".
Den kennt Steffen Grimberg in der TAZ offenbar nicht. Sein Artikel über die medialen Wahlverlierer (WAZ) und Wahlgewinner (Ruhr-Blogs) beginnt mit einer Beobachtung, die das Beckmann-"Ich" auch gemacht haben könnte:
"Wahlen kennen ein vertrautes Ritual: Hinterher haben immer alle gesiegt, wenigstens ein bisschen. Das ist trotz des noch reichlich offenen Ausgangs in Nordrhein-Westfalen nicht anders."
Ebenfalls ein Fall, dessen sich das Beckmann-"Ich" geistig bemächtigen könnte, ist Miriam Meckels Beitrag aus der NZZ von gestern. Es geht eigentlich ganz gut los, nämlich mit einer Reflektion über den Begriff "content" und der Frage, wie es sich mit gewissen Textgattungen im Netz verhält. Spätestens im fünften Absatz kommt das Beckmann-"Ich" dann aber zu seinem Recht, wenn von Helene Hegemann die Rede ist:
"Ausserdem erwachsen dem Internet neue Erzählkulturen, die sich alle Möglichkeiten und Formen der Informationsvermittlung und des Erzählens dienstbar machen. Dazu zählen journalistische Artikel oder auch Romane, an denen interessierte Leser im Netz mitschreiben können, um so wiederum zu Autoren zu werden. Und dazu gehören dann auch Produkte wie Helene Hegemanns 'Axolotl Roadkill', die man in tradierter Einordnung als Plagiat bezeichnet hätte, die aber nun plötzlich als 'webbasierte Intertextualität' eine neue Textkultur begründen."
[listbox:title=Artikel des Tages[Politiker beschönigen nichts mehr (FAZ)##NRW-Blogs als Wahlsieger (TAZ)##Miriam Meckels Netzgattungspoetik (NZZ)##RBB geht Sparen in der Zukunft durch (Berliner)]]
Man hätte, und das sagen wir jetzt auch noch mal dem Beckmann-"Ich", "Axolotl Roadkill" selbst in "tradierter Einordnung" nicht als Plagiat bezeichnet, weil man das mit Thomas Manns "Doktor Faustus" auch nicht macht, in dem alle musiktheoretischen Abhandlungen von Adorno stammen. Und das lange, bevor Intertextualität überhaupt webbasiert sein konnte.
Leider geht es im Text von Meckel dann so weiter: Alles, was über das Internet schon grob gesagt worden ist, wird hier noch einmal zusammengerührt. Etwa:
"Die Aktualität ist dabei der zeitliche Filter, mit dem auch der Journalismus im Netz seine Auswahl trifft, Themen für die Leser selektiert. Und zuweilen ist dieser Filter durch die Beschleunigung so eng geworden, dass nur noch der Zeitfaktor eine Rolle spielt und andere Selektionskriterien auf der Strecke bleiben. Schnelligkeit schlägt Sachgenauigkeit und Relevanz."
Diese Vorstellung vom Begriff der Aktualität würde man gern in die Antrittsvorlesung jagen, die der große Lothar Müller, Literaturkritiker der SZ, als Honorarprofessor gestern abend in der Berliner Humboldt-Universität gehalten hat: "Deadline. Über den Begriff der Aktualität". Der ist bei Müller neben Periodizität, Publizität und Universalität nämlich nur ein Bestandteil des "magischen Quadrats", nach dem Neuigkeitsorganisation betrieben wird.
Anders gesagt: Im Zweifel hat der Online-Journalist viel mehr Zeit für seinen Text als der Kommentator der NRW-Wahl, der von der ersten Prognose bis zum nahenden Redaktionsschluss fertig werden muss.
Apropos Prognose. DWDL kritisierte bereits gestern, dass das ZDF mit seinen Zahlen, die Rot-Grün vorne sahen, falsch lag (wozu Claudia Tieschky in der SZ von heute, Seite 15, schon Erklärungen eingeholt hat):
"Die CDU liegt am Ende mit gut 6.000 Stimmen vor der SPD und erreicht in Prozenten mit 34,6 Prozent der abgegebenen Stimmen einen hauchdünnen Vorsprung von 0,1 Prozent gegenüber der SPD mit 34,5 Prozent. Ein dramatischer Wahlabend in Nordrhein-Westfalen endet damit anders als er anfing: Da sahen Prognosen und erste Hochrechnungen sowohl von ARD als auch ZDF die SPD noch als stärkste Kraft im bevölkerungsstärksten Bundesland."
Vielleicht könnte Miriam Meckel demnächst ja in einem Text den Unterschied der Begriffe "Prognose" und "Hochrechnung" im Vergleich zu "amtliches Endergebnis". Das Beckmann-"Ich" sollte indes die Finger lassen vom DWDL-Zahlenfetischismus. Da wird es zu partikular, als man das noch durch so eine objektive Instanz wie das "Ich" vermitteln könnte.
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