1. Mai in Berlin: Feste, Demos und kaum Gewalt

1. Mai in Berlin: Feste, Demos und kaum Gewalt
In der Nacht zum 1. Mai ist es in Berlin eher ruhig geblieben. Friedliche Demos und die Angst vor Gewalt stehen nebeneinander. Eine Reportage aus den Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln.
01.05.2010
Von Cornelius Wüllenkemper

"Icke? Zum 1. Mai sag ick nüscht!" murmelt der sichtlich entnervte Ladenbesitzer in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg. Mit seinen Angestellten nagelt er am Freitagabend große Holzplatten vor die Schaufenster seines Streetwear-Ladens "Depot 2". Im Schaufenster sind Kapuzenpullis, Jeans und T-Shirts mit auffälligen Aufdrucken zu sehen, daneben steht auf einem Pappschild "Live is no picnic" und "I love Kreuzberg" – der Schriftzug ist gedruckt, als stünde er auf einer zerschlagenen Scheibe. Der Betreiber des "Depot 2", der auf seiner Website mit dem Slogan "Revolution, new in stock" wirbt, verdient sein Geld mit demselben Mythos von Gewalt und Straßenkampf, vor dem er sich und sein Geschäft jetzt schützen muss. Nur ein Ausdruck der Paradoxie des 1. Mai in Berlin.

Der Verkäufer eines Kurzwarengeschäfts auf der anderen Straßenseite gibt sich gelassener: "Was die kaputtmachen wollen, das machen die eh kaputt. Da helfen auch keine Barrikaden. Hier wird wie immer so viel Polizei sein – ich hoffe die kriegen das unter Kontrolle." Die "Revolutionäre 1. Mai Demonstration" wird in diesem Jahr zwar unter dem Motto "Die Krise beenden: Kapitalismus abschaffen" offiziell einer anderen Route folgen - dennoch ist kaum vorstellbar, dass die Oranienstraße - dort, wo vor 24 Jahren das Gewaltritual begann - in diesem Jahr verschont bleiben wird.

Gewaltbereite mischten sich unter Festbesucher

Nur einige hundert Meter weiter, am Mariannenplatz, bereitet man sich auf das "Myfest" vor. Auf dem traditionellen Familienfest gibt es Informations- und Verkaufsstände, Kleinkunst und kulinarische Spezialitäten – der Alkoholausschank ist reglementiert, und es gilt ein totales Flaschenverbot. Auch hier ist es in der Vergangenheit zu Ausschreitungen gekommen, als gewaltbereite Demonstranten sich unter die linken, aber friedlichen Festbesucher mischten und die Polizei die Kiez-Veranstaltung daraufhin mit Gewalt auflöste.

Vor Ausschreitungen hat Christian Müller, seit 25 Jahren Pfarrer in der evangelischen Sankt-Thomas-Kirche direkt am Mariannenplatz, in diesem Jahr keine Angst. "Vor acht Jahren hat die Polizei unsere Kirche dazu benutzt, die Demonstranten einzuzingeln. Aber ich glaube dieses Mal an ein friedliches Fest", sagt der Geistliche. "Wir halten die Kirche bis 18 Uhr offen und bieten den Leuten Kaffee, Kuchen sowie einen Büchertisch und Gespräche an. Viele kommen auch zu uns, um sich einfach auszuruhen vom Trubel auf dem Mariannenplatz.“ Müller bedauert, dass in den letzten Jahren die politische Aussage des Maifeiertages immer mehr in den Hintergrund getreten ist. Mit der Demonstration für Arbeitnehmerrechte haben die Ausscheitungen in Kreuzberg schon lange nichts mehr zu tun.

"Berlin is burning"

"Berlin is burning. Hohe Mieten und Verdrängung setzen die Stadt in Brand", heißt es seitens der Veranstalter des offiziellen Umzugs, der dieses Mal um die Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln führt, unweit der Gegend, wo in den vergangenen Monaten immer wieder Autos brannten, Geschäfts- und Bankfilialen angegriffen und Anschläge auf luxuriöse Neubauten verübt wurden. Das politische Potenzial des 1. Mai ist nicht völlig verschwunden, Demonstrationen und Informationskampagnen von Gewerkschaften, Kirchen und Parteien gehen nur neben den Gewaltexzessen unter. In den vergangenen Jahren haben sich die Ausschreitungen vor allem in den Osten der Stadt verlagert, nach Friedrichshain und in den Prenzlauer Berg.

Dieses Mal haben dort 1.500 bis 3.000 Neonazis für Samstagmittag eine Demonstration angemeldet. Denn auch sie reklamieren den 1. Mai, den die Nationalsozialisten 1933 als gesetzlichen "Feiertag der nationalen Arbeit" einführten, für sich. Am Freitagaend hat das zuständige Verwaltungsgericht entschieden, dass die erwarteten 10.000 Gegendemonstranten, unter ihnen auch der evangelische Landesbischof Markus Dröge sowie Kardinal Georg Sterzinsky, aus Sicherheitsgründen an einen anderen Ort ausweichen müssen. Dennoch dringen einige Autonome bereits am frühen Morgen zum Ort des geplanten Nazi-Aufmarsches durch. 7.000 Polizisten sollen den rechtsextremen Umzug abschirmen. In der Stadt herrscht derweil eine angespannte Ruhe. Die letzte Nacht, traditionell Auftakt der Gewalt, ist ruhig verlaufen.