Die katholische Kirche ringt um ihre Glaubwürdigkeit. Der Missbrauchsskandal mit immer neu auftauchenden Fällen hat die rund 25 Millionen Katholiken in Deutschland aufgewühlt. Und die "Erschütterung", von der Alois Glück spricht, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), ist nachhaltig. Zwar haben die Bischöfe sofort reagiert und erste Schritte zur Hilfe für die Opfer unternommen. Doch dürfte den meisten Verantwortlichen in den Kirchen klar sein, das dies nicht ausreichen wird. In ihrer schwersten Krise seit 1945 muss die katholische Kirche neue Wege suchen.
"Jetzt stehen die Opfer im Mittelpunkt"
Der Vertrauensverlust der vergangenen Wochen und Monate ist immens. Die Austrittszahlen in einigen Großstädten sollen sich im März verdoppelt (Köln) bis verdreifacht haben (Augsburg). Aktuelle Umfragen überschlagen sich: Danach haben 19 Prozent der Katholiken bereits an Austritt gedacht, 45 Prozent äußerten sich unzufrieden mit dem Papst ("Stern"). Dass die Kirche zur Aufklärung beitrage, wird stark bezweifelt. Gerade mal 20 Prozent nahmen das an, 68 Prozent meinten, sie tue es nicht (Omni Quest).
Gläubige wie Kirchenferne reagierten mit Entsetzen auf den Missbrauch, aber auch auf die Form des Umgangs damit: Zu lange wurde vertuscht und verschwiegen. Es habe eine "Kultur des Verdrängens, Nichtwahrhabenwollens und Wegschauens gegeben", sagt der ZdK-Präsident. Bei Missbrauch und Fehlern sei "das erste Gebot" gewesen, die Kirche zu schützen. Das habe sich allerdings gravierend geändert: "Jetzt stehen die Opfer im Mittelpunkt und nicht der Schutz der Institution Kirche."
Katholische Laien rufen nach Reformen
Tatsächlich haben sich die deutschen Bischöfe - anders als die irischen - eindeutig auf die Seite der Opfer gestellt und Aufklärung zu ihrer Sache gemacht: Sie setzten einen Missbrauchsbeauftragten ein, schufen eine Beratungs-Hotline, boten finanzielle Unterstützung für Therapien an und überarbeiteten ihre Richtlinien. Nun soll in allen Diözesen mit der Staatsanwaltschaft kooperiert werden. Selbst Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die der Kirche im Februar noch vorwarf, zu wenig mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten, lobt heute die Bischöfe für ihre Aufarbeitung.
Gänzlich offen ist aber noch die Frage der finanziellen Entschädigung. Hier halten sich die Bischöfe zurück - während die Justizministerin die Kirchen wie auch andere Institutionen, in denen es Missbrauch gab, in der Pflicht sieht. Mit Wiedergutmachung befasst sich auch der Runde Tisch in Berlin.
Unterdessen rufen die katholischen Laien nach Reformen in der Kirche. ZdK-Präsident Glück wurde vor kurzem in München deutlich: Wenn die Kirche ihre "Hausaufgaben" gemacht und die konkreten Missbrauchsfälle aufgearbeitet habe, dann müsse sie über Reformen reden, sagte er, und zwar "offen, ehrlich und tabufrei". Erneuerungen hatten an Ostern auch etliche Bischöfe angemahnt, darunter der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch. Die Kirche brauche einen Neuanfang, erklärte er. Offen blieb bislang, wie der aussehen könnte.
Sexualmoral überdenken
Für viele Katholiken ist eine neue Einstellung zur Sexualität das Gebot der Stunde. An der Basis ist auch kaum noch Verständnis zu finden für die Aufrechterhaltung des Pflichtzölibats, also der Ehelosigkeit der Priester. Eine "rigide Sexualmoral" und ein überhöhtes Priesterbild" seien mitursächlich für den Missbrauchsskandal, sagt der Sprecher der Initiative "Wir sind Kirche", Christian Weisner. Er plädiert dafür, das Priesteramt für Frauen zu öffnen und den Zölibat abzuschaffen.
Auch der ZdK-Präsident will die Sexualmoral überdenken, besonders im Blick auf Auswahl und Ausbildung von Priestern. Und auch er möchte den Pflichtzölibat auf den Prüfstand stellen - allerdings nicht, weil er etwas mit der Anfälligkeit für Kindesmissbrauch zu tun hätte, sondern aus Gründen des Priestermangels. Prominente katholische Theologen wie Hans Küng machen sich zudem stark für ein neues Konzil, das der Papst einberufen müsste; doch die Aussicht darauf ist wohl gering.
Papst enttäuscht viele Christen
Die Rolle von Benedikt XVI. selbst im Skandal ist umstritten: Zwar hat er unmissverständlich gegen Missbrauch Stellung genommen, im "Hirtenbrief" an die irischen Bischöfe etwa; doch Ostern schwieg er, als viele Christen ein Wort von ihm erwarteten. Und als die Kurie glaubte, den Papst gegen Kritik unterstützen zu müssen, klang der Ton relativierend: Die Rede Kardinal Sodanos vom "Geschwätz" der Medien stieß bei vielen Deutschen auf Verständnislosigkeit und machte sie erneut misstrauisch. Im Vatikan schien die Dramatik der Lage nicht wirklich angekommen zu sein.
Die katholischen Laien und wohl auch die meisten Bischöfe in Deutschland sehen sich dagegen in einer historischen Krise. Ob sie ein Ausgangspunkt für Erneuerung oder für Rückzug und Bedeutungsverlust wird, hängt nach Ansicht des ZdK-Präsidenten davon ab, wie die Kirche die "bitteren Erfahrungen" jetzt verarbeite und welche Konsequenzen sie ziehe.