Missbrauch: "Das Klima hat sich geändert"

Missbrauch: "Das Klima hat sich geändert"
Zum Thema sexueller Missbrauch gibt es auch gute Nachrichten: Die "Prügelpädagogik" vergangener Jahrzehnte weicht einer größeren Beachtung der Bedürfnisse von jungen Menschen - so das vorläufige Fazit des forensischen Psychiaters Norbert Leygraf. Er appelliert an alle, die mit Kindern zu tun haben, wachsam zu bleiben, denn die Gefahr von Missbrauch sei nie ganz auszuschließen.
25.03.2010
Die Fragen stellte Thomas Östreicher

evangelisch.de: Herr Leygraf, als gesichert gilt, dass der Zölibat nicht automatisch eine sexuelle Störung erzeugt. Ziehen umgekehrt manche Berufsfelder Menschen mit bestimmten sexuellen Neigungen an?

Norbert Leygraf: Das ist sicher so. Das liegt aber nicht daran, dass diese Menschen dann auf eine große Spielwiese hoffen, sondern daran, dass sie sich insgesamt zu Kindern und Jugendlichen hingezogen fühlen, nicht allein im sexuellen Bereich. Sie haben den Eindruck, dass deren Welt eigentlich auch die ihre ist. Es sind erschreckenderweise zum Teil wirklich gute Pädagogen, nur dass sie eben nicht als Pädagogen eingesetzt werden dürfen. Pädagogen sind generell in einer permanenten Verführungssituation. Ein pädophiler Maurer läuft nicht Gefahr, im Rahmen seiner Berufsausübung Kinder sexuell zu missbrauchen. Ein pädophiler Lehrer ist da natürlich gefährdeter.

"Es ist möglich, Sexualität zurückzuhalten"

evangelisch.de: Sind Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, therapierbar?

Leygraf: Das ist mittlerweile nicht mehr strittig. Sie sind durchaus therapierbar, aber nicht in dem Sinne, dass man ihnen eine andere Sexualität beibringt. Die sexuellen Präferenzen werden in der Pubertät festgelegt, danach ändert sich nicht mehr viel. Aber was man erreichen kann - sofern die Betroffenen das selbst auch wollen - ist, dass man ihnen verbesserte Kontrollmöglichkeiten über ihr Verhalten beibringt. Es ist ja durchaus möglich, seine Sexualität so zurückzuhalten, dass man nichts Kriminelles an anderen Menschen mehr ausübt.

evangelisch.de: Gibt es Schutzmechanismen in den Organisationen, die Missbrauch vorbeugen helfen?

Leygraf: Ja. Es hängt wesentlich vom Gesamtklima einer Einrichtung ab, ob sich Kinder ermuntert fühlen, problematische Erlebnisse zu melden und sich falls nötig zu beschweren. Die häufige Gleichsetzung der früheren Prügel-Pädagogik und des sexuellen Missbrauchs finde ich problematisch. Das sind unterschiedliche Dinge. Aber ich glaube, diese frühere Art der Pädagogik war Ausdruck einer bestimmten Haltung den Kindern gegenüber. Die gleiche Haltung spiegelte sich ebenfalls im Umgang mit sexuellem Missbrauch wider. Früher hatten Kinder generell Angst vor Lehrern und Direktoren und Angst davor, solche Dinge zu berichten. Dieses Klima hat sich mittlerweile vielfach geändert.

evangelisch.de: Zeigt dieser Wandel Wirkung?

Leygraf: Eindeutig. Im Moment werden Fälle aus den Fünfziger-, Sechziger-, Siebziger und Achtzigerjahren bekannt, aus den Neunzigern schon deutlich weniger, aus den Zweitausendern keine. Das liegt nicht daran, dass die Zweitausender-Fälle noch nicht in der Lage wären, darüber zu sprechen, sondern ich glaube, es gibt tatsächlich weniger Fälle. Das kann man auch in der Kriminalstatistik nachweisen: Die Anzeigehäufigkeit ist zurückgegangen, obwohl es ein Klima gibt, das solche Anzeigen heute leichter macht als früher. Ich glaube, das hat mit der stärkeren Stellung von Kindern in der Gesellschaft zu tun.

Am wichtigsten sind Ansprechpartner

evangelisch.de: Was können Leiter von Einrichtungen tun?

Leygraf: Es muss Ansprechpartner geben. Kinder müssen wissen, wem sie so etwas melden können, ohne Probleme zu bekommen. Der Umgang darf aber auch nicht zu offen sein, wie es offenbar in einem Elite-Internat der Fall war, wo gar keine Grenzen mehr zwischen den unterschiedlichen Generationen und Rollen bestanden. Das verführt gleichermaßen zu sexuellem Missbrauch wie ein zu autoritäres Klima.

evangelisch.de: Welche Möglichkeiten haben Eltern, um ihre Kinder zu schützen? Nützen Selbstbehauptungskurse für Kinder und Warnungen vor dem bösen Mann mit den Bonbons etwas?

Leygraf: Warnungen bringen nichts in den Fällen, in denen sich ein Fremder mit Gewalt ein Opfer greifen will. In dieser Situation hat ein Kind keine Chance, so schrecklich das klingt. Diese Sorte Täter hat kein Mitleidsempfinden und keine Fähigkeit, sich in ihre Opfer hineinzuversetzen. Beim sexuellen Missbrauch durch Pädagogen ist es aber wahrscheinlich schon sinnvoll, die Kinder zu ermutigen, dass sie deutlich machen, "das will ich jetzt nicht" mit der klaren Haltung: In diesem Bereich hat mir der Lehrer nichts zu sagen. Dieser Täterkreis geht selten mit direkter Gewalt vor. Eher wird das Machtgefälle ausgenutzt und psychischer Druck ausgeübt. Dem kann sich ein Kind widersetzen, wenn es selbstbewusst genug ist.

evangelisch.de: Manche Erwachsene fühlen sich erotisch von Kindern angezogen und fürchten sich davor, selbst Täter werden. Was raten Sie ihnen?

Leygraf: Es gibt inzwischen in Berlin, in Hamburg und demnächst in Regensburg Anlaufstellen, die pädophilen Menschen vorbeugend helfen. Wobei diejenigen, die sich selbst Sorgen machen, weil sie derartige Neigungen verspüren und erkennen, dass es falsch wäre, dem nachzugeben, kein großes Problem darstellen. Sie haben das in der Regel gut im Griff und vergreifen sich nicht an Kindern. Diese Menschen sind dagegen eher im Internet unterwegs und konsumieren Kinderpornografie. Sie blenden dabei aber aus, wie diese Bilder und Filme entstanden sind, und sie blenden auch aus, dass durch ihr Anklicken der Bedarf für neue Bilder geweckt wird und so neues Material entsteht. In einer Therapie kann man diesen Menschen zumindest eine andere Sichtweise vermitteln.

Beweise nach Jahrzehnten?

evangelisch.de: Wie stehen Sie zur Forderung, die Verjährungsfristen für Missbrauch zu verlängern?

Leygraf: Die Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen bringt meiner Meinung nach nichts mehr. Die sind schon ausgesprochen lang, zumal sie erst mit dem 18. Lebensjahr des Opfers beginnen. Man darf nicht vergessen: Je länger das Ganze zurück liegt, desto schwieriger wird die Beweisbarkeit, und es gibt nichts Schrecklicheres für ein Opfer, als wenn es sich nach 20 Jahren endlich zur Anzeige entschließt, der mutmaßliche Täter bestreitet die Tat, statt objektiver Beweismöglichkeiten gibt es Glaubhaftigkeitsgutachten, und am Ende steht das Opfer so da, als hätte es eine falsche Beschuldigung erhoben. Dann ist es noch einmal traumatisiert. Im Zivilrecht dagegen, wenn es also um Schadenersatz und Schmerzensgeld geht, ist die Verjährungsfrist extrem kurz. Dort könnte man über eine Verlängerung nachdenken.

evangelisch.de: Was halten Sie insgesamt von der aktuellen Diskussion?

Leygraf: Zurzeit wird viel über sexuelle Missbrauchshandlungen an Schulen und Internaten berichtet. Aber die allermeisten Handlungen, etwa 90 Prozent, werden im sozialen Nahfeld begangen - durch Onkel, Stiefvater oder Bekannte der Familie. Die Opfer dieser Taten geraten momentan ziemlich in Vergessenheit. Ihnen verspricht keiner Hilfe oder Entschädigung, und sie wissen oft auch nicht, wo sie sich melden sollen.


Prof. Dr. Norbert Leygraf ist Direktor des Instituts für forensische Psychiatrie an der Universität Duisburg-Essen und gerichtlicher Gutachter.