"Wir müssen den Schleier der Verallgemeinerung wegreißen und den Blick auf die Einzelschicksale richten", forderte von der Leyen. Es entspreche nicht der Wirklichkeit in Deutschland, dass sich die Mehrheit der Langzeitarbeitslosen in der Langzeitarbeitslosigkeit eingerichtet habe, sagte die Ministerin und ging damit erneut auf deutliche Distanz zu Außenminister Guido Westerwelle (FDP). So wichtig das Engagement von Bürgern sei, dürfe der Staat bei der Armutsbekämpfung nicht aus der Verantwortung entlassen werden.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen für Kinder habe deutlich gemacht, "dass wir besser werden müssen beim Blick auf bedürftige Kinder", sagte die CDU-Politikerin. Nicht nur die physischen Bedürfnisse von Kindern, sondern auch ihre sozialen Beziehungen und die frühe Förderung seien dabei zu berücksichtigen. Das Urteil könne den "positiven Treibsand bilden, damit alle Kinder Chancen erhalten".
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Die sechs Millionen Empfänger von Sozialleistungen in Deutschland müssten auch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, sagte Diakonie-Präsident Klaus-Dieter Kottnik. Deshalb müssten die Hartz-IV-Regelsätze neu berechnet werden. Insbesondere in Krisenzeiten müsse sich die Gesellschaft zu Solidarität und sozialer Gerechtigkeit bekennen. "Es ist nicht akzeptabel, wenn in der aktuellen Diskussion arbeitslose Menschen als Faulpelze und Schmarotzer verunglimpft werden", sagte Kottnik.
Der Bundesverband der Deutschen Tafeln forderte ebenfalls ein Ende der Diffamierungen von Hartz-IV-Empfängern. Wer mit dem Finger auf wenige Arbeitsunwillige zeige, verschweige die zunehmende Altersarmut bei Senioren, die rund zwei Millionen in Armut lebenden Kinder und Jugendlichen und rund eine Million Arbeitnehmer, die so wenig verdienen, dass sie ihr Gehalt mit Hartz IV aufstocken müssen, so der Verband.
Kritik an der Bundesregierung
Die familienpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Caren Marks, warf der Bundesregierung vor, konzeptlos und zerstritten in das EU-Jahr gegen Armut zu stolpern. Arme Familien benötigten bedarfsdeckende Hartz-IV-Regelsätze und kinderspezifische Einmalleistungen.
Die Europäische Union hat das Jahr 2010 zum "Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung" ausgerufen. In der EU gelten 78 Millionen Bürger als arm. Für die Kampagne stellt die EU 17 Millionen Euro bereit. Davon sind etwa acht Millionen Euro für die eigene Öffentlichkeitsarbeit eingeplant. Die restlichen Gelder werden auf die 27 Mitgliedstaaten und drei Beitrittskandidaten verteilt, so dass für Deutschland maximal 750.000 Euro aus dem europäischen Fördertopf bereitstehen.
Käßmann sagte Teilnahme ab
Die Bundesregierung fördert das Kampagnenjahr, das unter dem Motto "Mit neuem Mut" steht, mit zusätzlichen Mitteln. Sie gibt Geld für 40 ausgewählte Projekte gegen Armut. Diese Initiativen von Sozialverbänden, Diakonie, Caritas, Arbeitsverwaltungen oder Stiftungen erhalten bis zu 40.000 Euro. Beworben hatten sich bundesweit über 840 Träger.
Die Schirmherrschaft für die Kampagne hatte Margot Käßmann übernommen. Nach ihrem Rücktritt vom Amt der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland sagte sie ihre Rede bei der Auftaktveranstaltung ab. Die Frage der Schirmherrschaft blieb zunächst offen. Sie werde weder schnell noch einseitig entschieden, sagte eine Sprecherin des Bundessozialministeriums.