"Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nahe zusammen, um durch die gegenseitige Wärme sich vor dem Erfrieren zu schützen", erzählt der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) in einer Parabel. Jedoch bald fühlten die Tiere schmerzhaft gegenseitig ihre Stacheln und gingen wieder auf Abstand. Dieser Wechsel von Nähe und Distanz ist in diesem Jahr auch Thema der Fastenaktion "7 Wochen Ohne" der evangelischen Kirchen, an der sich nach Angaben der Veranstalter regelmäßig mehr als zwei Millionen Menschen beteiligen.
Man solle sein Schneckenhaus öfters mal verlassen, wirbt die Fastenaktion unter dem Leitwort "Näher!" Die Zeit zwischen Aschermittwoch (17. Februar) und Ostersonntag solle bewusst erlebt und gestaltet werden, heißt es zur 27. Kampagne "7 Wochen Ohne". Traditionell wirbt die Fastenaktion für den freiwilligen Verzicht auf Alkohol, Süßigkeiten, Nikotin oder Fernsehkonsum. Doch den Machern geht es nicht nur darum, dem Konsum abzuschwören.
Fasten soll mehr sein als nur Verzicht: "In der christlichen Tradition bedeutet die Fastenzeit vor allem auch eine Zeit der Besinnung", heißt es auf www.7-wochen-ohne.de. Das kann auch heißen, seinen Lebensstil zu ändern. Daher wird in diesem Jahr dazu aufgerufen, "mehr Berührung, mehr Begegnung" zuzulassen. Die Initiatoren der Aktion regen an, Überraschungsbesuche zu machen, eingeschlafene Kontakte aufzuwecken oder "einander die Freundschaft zu erklären".
Kontakte rund um den Globus - und die Nachbarn?
"Wagen Sie sich aus der Deckung und richtig nah dran", formulieren die Veranstalter. Zwar biete die vernetzte Welt heute Kontakte rund um den Globus, "aber nicht mit den eigenen Nachbarn", geben die Macher der Fastenaktion zu denken. Gemeinschaft lebe von der Begegnung. Die Initiative will Raum schaffen für Gespräche, "einen Krankenbesuch oder eine überfällige Liebeserklärung. Für alles, was nicht in eine SMS oder E-Mail passt."
"Ständig online, das geht nicht", weiß auch Psychotherapeut und Psychiatrie-Professor Götz Mundle. Wer ohne Pause twittert, mailt und chattet, gefährde auf Dauer seine Gesundheit. Dafür sei der Mensch nicht gebaut, er brauche "Ruhepausen, in denen er zu sich kommen kann". Viele könnten nicht mehr abschalten, warnte der Experte im Magazin "Psychologie Heute". Suchtverhalten sei auch oft ein Ersatz für den Mangel an Verbundenheit mit anderen und sich selbst.
Tatsächlich ist die Angst vor Nähe mittlerweile zum gesellschaftlichen Problem geworden - nachdem viele Jahrtausende lang kaum einem Menschen eingefallen war, darüber nachzudenken. Dabei sei Nähe ganz einfach, gibt der Psychotherapeut und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer ("Die Angst vor Nähe") zu bedenken: "Nähe ist das, was zwischen Menschen entsteht, die beisammen sind und nichts gegen sie tun." Doch die heutige Gesellschaft mit ihren zahlreichen Zwängen fördere eher die Distanz.
Scheu vor anderen Menschen
So gibt in einer aktuellen Umfrage von chrismon fast die Hälfte der Befragten aus Berlin an, extreme Scheu davor zu haben, sich zu Fremden an den Tisch zu setzen. Weiteres Ergebnis: Die Westdeutschen genieren sich leichter als die Ostdeutschen. 17 Prozent der Befragten aus den alten Ländern - Frauen deutlich mehr als Männer - mögen sich im Schwimmbad nicht nackt in den Gruppenumkleideräumen zeigen, im Osten sagt das nur jeder Zehnte. Und: Ein Drittel der Männer behauptet, keine Scheu zu kennen.
"Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei", werben daher die Initiatoren der Aktion "7 Wochen Ohne" mit einem Zitat aus der biblischen Schöpfungsgeschichte. Die Initiative findet statt in der Passionszeit. Es sind die Wochen vor Ostern. Nähe ist auch ein zentraler Begriff des Christentums. Schließlich gehört die Botschaft Jesu von der unmittelbaren Nähe Gottes zu den Menschen in das Zentrum christlicher Verkündigung.
In Schopenhauers Stachelschwein-Gleichnis fanden die Tiere schließlich heraus, dass ein Beisammensein bei einer mittleren Entfernung durchaus möglich ist. In der menschlichen Gesellschaft sei dies "Höflichkeit und feine Sitte", urteilte der vor 150 Jahren in Frankfurt am Main gestorbene Philosoph. Mit einem höflichen und gesitteten Umgang werde zwar das Bedürfnis gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, "dafür aber der Stich der Stacheln nicht empfunden."