Südafrika: "Kirche hat ihre Rolle noch nicht gefunden"

Südafrika: "Kirche hat ihre Rolle noch nicht gefunden"
Vor 20 Jahren kam Nelson Mandela frei, wenig später endete die Rassentrennung in Südafrika. Der evangelische Pfarrer und Widerstandskämpfer Ben Khumalo-Seegelken, der seit 1975 in Deutschland lebt, erinnert sich an die Zeit der Apartheid - und blickt in die Zukunft seines Heimatlandes. Die Kirche in Südafrika, so der 59-jährige Geistliche, hat ihre Rolle im demokratischen Staat noch nicht gefunden. Ein Gespräch über die Kraft des Glaubens, die Versöhnung zwischen Schwarzen und Weißen - und über die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft.
11.02.2010
Von Bernd Buchner

evangelisch.de: Herr Pfarrer Khumalo-Seegelken, wie haben Sie von der Freilassung Nelson Mandelas erfahren?

Khumalo-Seegelken: Von meiner Familie. Mein Bruder rief mich an und teilte mir es mit.

evangelisch.de: Was ging da in Ihnen vor?

Khumalo-Seegelken: Ich konnte es nicht glauben, es war unbeschreiblich. Wir hatten uns das sehr lange gewünscht und darauf gehofft – als es dann geschah, wollte es mir nicht in den Kopf. Eine große Freude, unfassbar.

evangelisch.de: Haben Sie in dem Moment schon geahnt, was danach geschehen würde – dass die Apartheid zu Ende geht und ein neues Südafrika entsteht?

Khumalo-Seegelken: Ich war sehr aktiv im Widerstand, im Kampf gegen die Apartheid, so dass ich spätestens seit Verhängung des Ausnahmezustandes 1985/86 mit einem furchtbaren Blutbad gerechnet hatte. Ich befürchtete, dass etwas ganz Schlimmes passieren würde. Denn alles deutete darauf hin, dass die Machthaber die Lage nicht mehr im Griff hatten.

evangelisch.de: Es ist anders gekommen.

Khumalo-Seegelken: Das ist eine positive Überraschung gewesen – genau umgekehrt zu dem, was wir befürchtet hatten.

"Daran geglaubt, dass Unrecht nicht das letzte Wort ist"

evangelisch.de: Sie sind evangelischer Christ, ein gläubiger Mensch. Haben Sie in all den Jahren auch geglaubt, dass es mit der Apartheid einmal zu Ende gehen könnte?

Khumalo-Seegelken: Ich hatte die Hoffnung und die Zuversicht, mich nicht abzufinden mit der Übermacht. Damit, dass sich die Machthaber so rücksichtslos durchsetzen und wir scheinbar auf verlorenem Posten stehen mit unserem Bitten und Widerstehen. Hin und wieder hatte ich die Ermutigung fortzufahren auf dem Wege, das Unrecht in Frage zu stellen und mit anderen zusammen auf das hinzuarbeiten, was wir als Ziel angesehen hatten. Ich hatte den Glauben daran, dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein würde.

evangelisch.de: Wie hat Ihnen der Glaube geholfen? Es war ja alles andere als ein leichter Kampf.

Khumalo-Seegelken: Da dieser Glaube nicht nach innen gewendete Frömmelei war, sondern mit anderen geteilt wurde angesichts der Geschehnisse, denen wir ausgesetzt waren, habe ich in der Auseinandersetzung mit diesen Zumutungen die Kraft geschöpft, dass das einen Sinn hat: meinen Mann zu stehen und meinen Glauben in konkrete Versuche und Zeichen umzusetzen. Die Art, in der ich gelernt hatte zu glauben, hat mir geholfen. Widerstand und Kampf waren Ausdruck des Glaubens daran, dass das letzte Wort nicht die Ausweglosigkeit sein wird.

evangelisch.de: Jesus hat gesagt: Liebt Eure Feinde. Die Verfechter der Apartheid waren ja auch evangelische Christen. Haben Sie sich manchmal gefragt, ob das der gleiche Gott ist, an den man glaubt?

Khumalo-Seegelken: Als Jugendlicher, etwa mit 17, habe ich es als Zumutung empfunden, wenn meine Eltern oder älteren Geschwister dieses Wort Jesu in Erinnerung riefen. Der Alltag, in dem einem Menschen weißer Hautfarbe den Boden unter den Füßen wegziehen, das Leben so schwermachen und zugrunde richten, dass man sie gar als Feinde bezeichnen muss – und dann die Aufforderung, sie zu lieben: Das war für uns damals, in den kleinen Gruppen im "Black Consciousness Movement", eine schwere Zumutung.

evangelisch.de: Wie gingen Sie dann damit um – auf der einen Seite christlich denken und fühlen, auf der anderen Seite aber die Ungerechtigkeit jeden Tag am eigenen Leib zu spüren bekommen?

Khumalo-Seegelken: Seinerzeit erkannten wir, dass wir dazu beitragen können, jeden Menschen erleben zu lassen, dass er ein gewolltes Geschöpf Gottes ist, dass Gott nicht der Gott der Apartheid ist und sein kann, sondern ein Gott, der alle Menschen – welcher Hautfarbe auch immer – geschaffen und mit gleicher Würde ausgestattet hat. Und dass es nur im Sinne dieses Gottes sein kann, wenn in unserem Lande die Apartheid verschwände und die Menschen so gleichberechtigt miteinander lebten, so wie wir meinten, Gott zu verstehen. Endlich kapierte ich, dass dies die Herausforderung war, vor der wir standen. Wir sind doch Christen nicht in einem luftleeren Raum, sondern dort, wo Christen Christen entmenschlichen. Und wir sind in einem Land, in dem Menschen, die sich auf Gott berufen, andere Menschen entmenschlichen und dies noch als Umsetzung des Planes Gottes mit seinem Volk ausgeben. Wir werden herausgefordert durch diesen Zustand, uns damit nicht abzufinden und dafür einzutreten, dass das Gegenteil verwirklicht wird. Das tun wir mit vielen zusammen, auch mit denjenigen, die diesen Glauben nicht teilen. Und das tun wir, damit auch die, die uns unterdrücken, befreit werden von dieser Gefangenschaft, in der sie sich befinden – in der sie es nötig haben, sich auf Kosten und unter Ausschluss anderer Vorteile zu ergattern. Es war ein Reifungsprozess als junger Christ, der dazu führte, den Kampf gegen die Apartheid als die Umsetzung des Glaubens im Alltag zu verstehen.

evangelisch.de: Als Mandela 1962 ins Gefängnis kam, waren Sie ein Kind von knapp zwölf Jahren. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Khumalo-Seegelken: Ich habe sie bewusst erlebt, denn ein Jahr vor der Verhaftung Mandelas wurde das Dorf und mit ihm das haus, das meine Eltern 20 Jahre zuvor mit ihrer eigenen Hände Arbeit errichtet hatten, dem Erdboden gleichgemacht im Rahmen der Zwangsumsiedlungs- und ausbürgerungspolitik, die später beschönigend "Homeland"-Politik genannt wurde. Auch Kinder wie ich damals waren stets auf dem Laufenden und bekamen unmittelbar mit, was sich alles abspielte. Namen wie Nelson Mandela, Robert Sobukwe und Oliver Tambo, die Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre das zur Sprache brachten, was die Bevölkerungsmehrheit bewegte, waren in aller Munde. Mandela war ja über ein Jahr lang untergetaucht, und ich kann mich noch erinnern, was für eine Enttäuschung durch unser Dorf ging, als sie ihn dann doch gefasst hatten.

evangelisch.de: Wo waren Sie zu Hause?

Khumalo-Seegelken: Das Dorf, in dem ich geboren wurde und groß wurde, war in einer Gegend in der heutigen Provinz KwaZulu-Natal, wo damals alle Siedlungen der Schwarzen als "black spots" bezeichnet wurden und entfernt werden sollten, damit die Landkarte nach Einführung der Apartheid 1948 dem großen Plan entsprechen sollte, wonach es weiße Großgrundbesitztümer einerseits und Reservate andererseits geben sollte. In der Gegend, in der meine Vorfahren seit Jahrhunderten zu Hause gewesen sind und auch in der Kolonial- und Apartheidszeit lebten, wurde diese Androhung in die Tat umgesetzt. Unser Dorf wurde am 13. Februar 1963 dem Erdboden gleichgemacht.

evangelisch.de: Später, im Jahr 1975, mussten Sie Südafrika verlassen.

Khumalo-Seegelken: Ja, ich verlor ein weiteres Mal meine Heimat. Ich habe das recht oft durchmachen müssen. Irgendwann war klar, dass ich nur mit am Ball bleiben und zur Abschaffung der Apartheid beitragen kann, wenn ich mich der drohenden Verhaftung entziehe.

Anfangs ergriff die EKD nicht deutlich Partei

evangelisch.de: In Deutschland hat die evangelische Kirche relativ früh begonnen, gegen die Apartheid in Südafrika zu agieren. Hat Ihnen das geholfen, hier heimisch zu werden?

Khumalo-Seegelken: Als ich nach Deutschland kam, waren es nur sehr vereinzelte Kirchengemeinden, vor allem Frauengruppen, die sich für das Thema interessierten. Da habe ich zum ersten Mal erlebt, dass sich Menschen ernsthaft darüber Gedanken machten, zuhörten und uns fragten, wie wir uns die Zukunft vorstellen und wie aus unseren Hoffungen Wirklichkeit werden könnte. Aber es war nicht "die" evangelische Kirche. Die Evangelische Frauenarbeit in Deutschland (EFD) etwa rief die Aktion "Kauft keine Früchte der Apartheid" ins Leben und versuchte, die Frage zu beantworten: Was geht uns in Deutschland die Apartheid in Südafrika an? Doch sie musste erleben, dass die Förderung aus Kirchensteuermitteln, die ihnen schon zugesagt worden war, vom EKD-Rat wieder rückgängig gemacht wurde – mit schwer verstehbarer Begründung. Da merkte man, dass die EKD selbst noch nicht so weit war, deutlich Partei zu ergreifen für die Opfer und Gegner der Apartheid. Es waren einzelne Menschen in den Gemeinden und Solidaritätsgruppen, die mir den Rücken gestärkt haben.

evangelisch.de: Sie haben die Entwicklung seit den späten 1970er Jahren aus Deutschland miterlebt, aus der Ferne. War das manchmal schmerzhaft?

Khumalo-Seegelken: Recht oft sehr. Insbesondere am Anfang, denken Sie an das Niedermähen wehrloser Schulkinder in Soweto 1976. Ich war kurz davor, das Studium im Tübingen über Bord zu werfen und mich nach Soweto zu begeben, bin von meinen Angehörigen und Freunden zur "Vernunft" gerufen worden. Es war wichtig, dass ich mein Hiersein auch als stellvertretendes Hiersein verstehe, und die Stimme derer werde, die nicht persönlich ihre Stimme hier erheben können. Es wäre sehr kurzsichtig gewesen, mich sehenden Auges in noch größere Gefahr zu begeben. Es gab gleichwohl Augenblicke, in denen es recht schwer war, nicht vor Ort zu sein. Es gab aber auch Augenblicke, in denen es schwer war, auch in Deutschland Gefahren ausgesetzt zu sein. Da waren Einschüchterungen und Angriffe durch Agenturen des Apartheidstaates in Deutschland. Es wurden in den Siebzigern und in den Achtzigern sogar Menschen, die ich persönlich gekannt und mit denen ich eng zusammen gearbeitet hatte, durch Briefbomben umgebracht – selbst in Europa. Eine Zeit lang haben meine Familie und ich weitreichende Schutzmaßnahmen in Anspruch nehmen müssen – gegen Drohungen, die uns gegenüber gemacht worden waren. Es ist dies eine sehr herausfordernde und harte Zeit gewesen.

evangelisch.de: Nach dem Ende der Apartheid hat Südafrika ganz bewusst den Weg der Versöhnung eingeschlagen. Ist das auch ein Erbe des christlichen Kampfes gegen die Rassentrennung gewesen?

Khumalo-Seegelken: Die meisten Menschen, die im Widerstand und im Kampf gegen die Apartheid mitwirkten, waren tief in der Tradition des gewaltfreien Widerstandes verwurzelt. Diese Tradition gibt es auch in der Geschichte des African National Congress (ANC). Es ist gut dokumentiert, dass nichts, aber auch gar nichts auf dem Wege der Petitionen, Verhandlungen und friedlichen Demonstrationen unversucht gelassen wurde, um die Machthabenden umzustimmen und zur Einsicht zu bringen. Dies hat eine lange, tief verwurzelte Tradition in Südafrika, losgelöst von religiösen Prägungen, welcher Konfession auch immer sie sein mögen. Selbst in der Kolonialzeit, als die weißen Christen die schwarze nicht-christliche Bevölkerungsmehrheit mit List und Waffengewalt um ihr Land brachten, gab es erstaunlich doch viele Verhandlungen und Übereinkünfte, um Blutvergießen eindämmen zu helfen. Es gibt Bevölkerungsgruppen in Südafrika, die das Verhandlungsgeschick zur Stärke ihrer Politik entwickelt haben. Dies kommt im neuen Südafrika nach dem epochalen Wahlsieg 1994 deutlicher zum Ausdruck.

"Institutionalisierte Kirche glänzt durch Abwesenheit"

evangelisch.de: Welche Rolle spielen heute Glaube und Kirchen?

Khumalo-Seegelken: Es gibt Menschen mit Rückgrat – Menschen, die in der Zeit der Apartheid auch dann, wenn die vielen Stimmen des gewaltfreien Widerstands nicht mehr vernehmbar waren, dennoch ihre Stimme erhoben haben unter Inkaufnahme großer Gefährdung – etwa Desmond Tutu. Es sind Menschen, die im neuen Südafrika auch gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat klare Worte finden und deutlich Partei ergreifen für Opfer von Unrecht. Es sind Menschen, die in der Tradition des christlich motivierten Widerstandes diese Linie weiterziehen. Doch auch Nichtregierungsorganisationen außerhalb der Kirche haben zum Beispiel den Wahrheits- und Versöhnungsprozess begleitet. Dabei erhielten Menschen Raum, die keine Möglichkeit hatten, im Rahmen der Anhörungen ihr Leid zu klagen, mit den Verfolgern von damals über das zu reden, was geschehen war, und Versöhnung und Vergebung zu suchen. Diese Organisationen und Interessengemeinschaften sind konfessionsübergreifend und auch nicht nur christlich oder kirchlich bestimmt. Die institutionalisierte Kirche, sei es im Zusammenschluss des Südafrikanischen Kirchenrates oder aber die verschiedenen Konfessionen, die es im Lande gibt, glänzt im neuen Südafrika des Öfteren durch Abwesenheit, wo ihre Stimme nötig wäre.

evangelisch.de: Woran liegt das?

Khumalo-Seegelken: Meiner Beobachtung nach hat die institutionalisierte Kirche ihre kritisch-konstruktive, begleitende Rolle in einer demokratischen Gesellschaft noch nicht gefunden. Es gibt im Land noch die Apartheidgeografie, und die Struktur der Trennung und des beziehungslosen Nebeneinanders, wie es vorhanden war, ist noch heute in den institutionalisierten Kirchen zu finden. Am Sonntagvormittag ist Südafrika am getrenntesten – wenn jeder und jede im Gottesdienst mit denjenigen zusammen ist, mit denen man auch zur Apartheitszeit gezwungenermaßen zusammen war. Wege in die Richtung, dass Christinnen und Christen gemeinsam den Alltag gestalten und dem Staat vormachen, wie es werden könnte, wenn Menschen miteinander lebten, lassen sich nur hier und dort in Einzelfällen finden. Nach wie vor sind Menschen weißer Hautfarbe unter Menschen weißer Hautfarbe, und Menschen schwarzer Hautfarbe unter Menschen schwarzer Hautfarbe. Und es gibt auch Kirchen, etwa die Evangelisch-Lutherische Kirche, die die Strukturen aufrechterhalten haben, die in der Apartheidszeit entstanden waren. Eine lutherische Kirche für Weiße und eine für Schwarze bestehen nebeneinander. Seit der Demokratisierung, also seit 15 Jahren, haben wir den Schritt nicht vollzogen.

Fußball-WM in einem Land, das im Aufbruch ist

evangelisch de: Es bleibt also noch viel zu tun …

Khumalo-Seegelken: Ja, im neuen Südafrika ist in den vergangenen 15 Jahren weniger in Bewegung gekommen, gerade in den institutionalisierten Strukturen der Kirche, als hätte zustande kommen können.

evangelisch.de: Im Sommer nun steht die Fußball-Weltmeisterschaft bevor. Welches Südafrika kann die Welt dort erleben?

Khumalo-Seegelken: Die Welt kann ein Südafrika erleben, das im Aufbruch ist. Das in seinem Alltag die großen Widersprüche zwischen Arm und Reicht deutlich an den Tag legt. Ein Südafrika, das aber großes Potenzial hat, es gibt viele junge und engagierte Menschen in politischer Verantwortung, die den Aufbruch weiter entfalten wollen. Es ist ein rmutigendes und anspornendes Bild.


Dr. Ben Khumalo-Seegelken (59) wurde im Jahr 1950 in KwaZulu-Natal geboren. Als christlicher Anti-Apartheid-Aktivist musste er 1975 Südafrika verlassen, erhielt in Deutschland Asyl und ließ sich später einbürgern. Er studierte evangelische Theologie und Sozialpädagogik und wurde in Tübingen promoviert. Nach der Ordination 1986 arbeitete Khumalo-Seegelken als Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Grevenbroich. In den vergangenen Jahren war er unter anderem an mehreren Sozialprojekten in Berlin beteiligt, rief das "Flüchtlingsnetzwerk Oldenburg" ins Leben und gründete das Bibelübersetzungswerk "biblia zuluensis", das die Heilige Schrift ins isiZulu überträgt. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Oldenburg und arbeitet gegenwärtig an einer Habilitation.