Kriegskinder: "Sei doch froh, dass du überlebt hast"

Kriegskinder: "Sei doch froh, dass du überlebt hast"
Die alten Bilder kommen wieder. Mit voller Wucht, diesmal angestoßen durch einen schweren Verkehrsunfall. Ein Arm hängt aus dem Führerhaus des Lasters. Gerhard Schulz denkt mehr als 60 Jahre zurück.
11.02.2010
Von Dieter Sell

Wie Blitzlichter kommen die Erinnerungen: Bombenangriffe, Panzerschüsse, brennende Häuser, Vertreibung und das zerstörte Berlin mit den Schuttbergen, aus denen Körperteile von Toten herausragen. Der heute 75-Jährige aus Stade gehört zu den Kriegskindern, die Jahrzehnte nicht über diese Bilder sprechen konnten, die ihre Seelen doch so tief verletzt haben.

Im Evangelischen Bildungszentrum Bad Bederkesa zwischen Bremen und Hamburg ist Zeit und Raum, um die Erinnerungen bewusst wachzurufen. Das Haus hat Kriegskinder wie Gerhard Schulz eingeladen, die früh in ihrem Leben mit Gewalt, Vergewaltigung, Tod, Armut, Hunger, Verlusten und Kälte konfrontiert wurden. "Die Resonanz ist riesig, das Bedürfnis nach Gesprächen groß", sagt Jörg Matzen, Leiter des Bildungszentrums.

"Die Aufforderung, seine Pflicht zu erfüllen"

Fast 15 Millionen Deutsche erlebten als Kinder die Kriegsjahre. Der Psychoanalytiker und Psychiater Hartmut Radebold schätzt, dass nahezu zwei Drittel von ihnen durch ihre Erlebnisse teilweise schwer traumatisiert wurden mit späteren Symptomen wie etwa Schlafstörungen, Panik, Herzkrankheiten. 65 Jahre nach dem Ende des Hitler-Regimes ist für sie deshalb der Zweite Weltkrieg noch immer nicht zu Ende.

"Früher wurde ihnen gesagt, sei doch froh, dass du überlebt hast", berichtet Radebold, der als führender Alterspsychotherapeut in Deutschland gilt und die Gruppe in Bad Bederkesa begleitet. "Doch das hatte nichts mit den Träumen, mit den Wünschen der Kinder zu tun. Das war die Aufforderung, seine Pflicht zu erfüllen.

"Es war tabu, darüber zu sprechen"

Gerhard Schulz kennt den Satz, den auch er zu hören bekam, obwohl er schmerzliche Verluste hinnehmen musste. Sein Vater, Wasserbauer in dem kleinen Dörfchen Raumerswalde an der Warthe, dem heute polnischen Roszkowice, wurde von russischen Soldaten verschleppt und tauchte nie wieder auf. Sein Bruder geriet in Gefangenschaft, seine Schwester starb, später auch seine Mutter. Heute quälen ihn Angstattacken, die aus heiterem Himmel kommen. Begleitet und gestützt von seiner Frau Hildegard und seinen Kindern ist er nun nach Bad Bederkesa gekommen.

In einem kleinen Koffer hat er Briefe und alte Fotos mitgebracht. Es sind Dokumente aus einer Zeit, die für viele Kriegskinder mit Schuld und Scham verknüpft ist. Tränen und Trauer haben sie sich nicht zugestanden. "Bis vor wenigen Jahren war es tabu, darüber zu sprechen", sagt Radebold. Mit Schulz wagen nun immer mehr Betroffene einen späten Abschied von einer Kindheit, die jäh beendet wurde. Heranwachsende wie er mussten auch wegen allzu früh abwesender Väter oder Mütter Verantwortung übernehmen und funktionieren.

Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie ein Windhund

"Für die inneren, die unsichtbaren Verwüstungen bei sich selbst und bei den Kindern hatte im Nachkriegsdeutschland kaum jemand Augen und Ohren", resümiert Radebold. Der ebenfalls 75-jährige Wissenschaftler ist selbst ein Kriegskind. Er schätzt, dass fast 30 Prozent der heute über 60-Jährigen unter Depressionen leiden. Weitere fünf bis sieben Prozent haben posttraumatische Belastungsstörungen.

"Wir haben Geschichte, wir gestalten Geschichte und Geschichte prägt uns. Sie sitzt uns in allen Poren, in unserer Seele - bis zum Lebensende", ist er überzeugt. Unbearbeitet könnten seelische Verletzungen an die nächste Generation weitergegeben werden, weil Kriegskinder ihre Erinnerungen und Verhaltensweisen nicht los würden. "Zum Beispiel die fehlende Rücksichtnahme auf den eigenen Körper, die Hitler von der Jugend gefordert hat: Sei hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie ein Windhund."

"Ein paar Jahre ohne Panikattacken, ohne Verzweiflung zählen viel"

Manche missachten ihren Körper heute noch, gehen nicht einmal zu Vorsorgeuntersuchungen. Sie lehnen Hilfsangebote ab, weil sie nicht mehr so hilflos sein wollen wie in ihrer Kindheit. Andere verstecken aus Angst vor einer Hungersnot Brot im Schrank. Radebold macht Mut, die Erlebnisse der Kindheit therapeutisch aufzuarbeiten, so lange es noch geht. "Selbst ein 75-Jähriger kann doch noch lange leben. Ein paar Jahre ohne Kummer, ohne Panikattacken, ohne Verzweiflung und Alpträume zählen viel."

Gerhard Schulz hat damit begonnen. Nun kommen ihm auch andere Bilder in den Sinn. Der wohlriechende Pfeifentabak des alten Flößers auf der Warthe beispielsweise, Maikäfer in Zigarrenkisten, Soldaten, die ihn auf den Schoß nahmen und ihm ein paar Brocken Russisch beibrachten: "idi suda" etwa (komm her). "Durch das Reden wird zwar alles noch mehr aufgerührt", meint Schulz und schickt noch etwas zögerlich nach: "Aber das ist fast befreiend."

epd