evangelisch.de: In "Hilflos" spielt du den Jugendlichen Tobias, der Opfer von Mobbing geworden ist. Was dem Jungen in dem Film passiert, ist extrem schlimm. Glaubst du, die Realität ist genauso grausam?
Sergej Moya: Man kann sich das leider alles vorstellen. Es geht ja um einen gruppendynamischen Prozess bei Jugendlichen und ich denke, da kann so ein Rausch entstehen, in dem die grausamsten Dinge passieren. Mit den Opfern aber auch mit den Tätern.
evangelisch.de: Ich fand den Film phasenweise regelrecht schmerzhaft. Es tat sehr weh zu sehen, was dort mit Jugendlichen passiert. Ging es dir beim Dreh auch so?
Moya: Ja. Wenn ich so eine Rolle spiele, durchlebe ich das auch. Den Schmerz muss ich selber fühlen. Wenn ich beispielsweise nur versuche, dass Gesicht eines traurigen Jungen zu machen, ohne selbst Trauer zu spüren, funktioniert es nicht. Es gibt ja auch Menschen, denen solche Dinge wie meiner Figur im Film tatsächlich passiert sind. Denen muss man gerecht werden.
Intensiver Augenblick
evangelisch.de: Klingt so, als sei "Hilflos" auch für dich eine schlimme Erfahrung gewesen…
Moya: Es war eine schlimme Erfahrung, aber es hat auch unheimlich viel Spaß gemacht und es war gut, es durchgemacht zu haben. Es gibt eine Verhörszene, in der Tobias berichtet, wie er von seinen Mitschülern zum Oralverkehr mit seinem Kumpel genötigt worden ist. Wenn ich so etwas erzählen kann und dabei das Gefühl habe, das ist mir tatsächlich passiert, dann ist das ein unglaublich intensiver Augenblick. Als die Szene im Kasten war, waren alle am Set für einige Minuten ganz still. Das sind beim Drehen großartige Momente, in denen man kurz innehält und spürt: Da ist gerade etwas passiert.
evangelisch.de: Offenbar ist Schauspielerei für dich eine Art, das Leben in allen Facetten kennenzulernen.
Moya: Als Schauspieler bekommst du die Chance, als Exhibitionist und Protagonist in ein anderes Leben reinzuschlüpfen. Du kannst dich auf krasse Reisen begeben, die nichts mit Pauschaltourismus zutun haben, sondern innere Prozesse sind und am Ende hast du etwas verstanden oder dazugelernt. Als ich die Rolle für "Hilflos" angenommen habe, wusste ich nichts über Mobbing. Aber diesen Prozess zu durchleben, was Mobbing mit einem Menschen macht, dafür spiele ich.
evangelisch.de: Du bist in "Hilflos" zunächst in der Opferrolle. Dennoch ist es mir schwergefallen, Mitleid mit Tobias zu empfinden. Irgendwie ist der Typ ja echt ein bisschen schmierig und unsympathisch.
Moya: Ich hatte keine Lust diesen klassischem Amokläufer-Looser-Typen zu zeigen, den man schon 50 Mal in einem Film gesehen hat und den es in der Realität einfach nicht gibt. Es gibt nicht immer nur das arme Opfer, das einem sympathisch ist und den bösen Täter, der durch und durch unsympathisch ist. Dazwischen gibt es viele Grautöne. Gerade beim Mobbing können die Täter ja einzeln betrachtet ganz liebenswerte Typen sein. Und doch sind sie – vor allem in der Gruppe – zu ganz schrecklichen Dingen in der Lage. Umgekehrt können Opfer ja auch zu Tätern werden, allein um einmal ihrer Opferrolle zu entfliehen.
Schonungsloser Film
evangelisch.de: Die "Tatorte" greifen oft gesellschaftliche Probleme auf. Ist nicht auch das schon manchmal zu konstruiert?
Moya: Ein "Tatort" sollte unterhaltend sein. Wenn er das ist, schafft er schon sehr viel. Wenn er sich dazu noch mit einem wichtigen gesellschaftlichen Thema befasst, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger daherzukommen, schafft er noch viel mehr. Ein "Tatort" hat eine extrem hohe Aufmerksamkeit, deshalb sollte man auch hohe Maßstäbe an ihn anlegen. Sowohl was die Unterhaltung angeht, als auch was den Umgang mit gesellschaftlichen oder moralischen Fragen betrifft.
evangelisch.de: "Hilflos" präsentiert dem Zuschauer am Ende zwar einen Täter, gibt aber letztlich keine Antwort auf das, was tatsächlich geschehen ist.
Moya: Das macht den Film so schonungslos. Die Frage, was in einem Menschen vorgehen muss, um das zu tun, was die Protagonisten in "Hilflos" tun, bleibt letztlich offen. Ich finde es toll, dass die Autoren, der Regisseur und die Redaktion den Mut hatten, diese Frage stehen zu lassen und sie dem Publikum zu stellen und nicht der Versuchung erlegen sind, eine vermeidliche Antwort zu geben, die ohnehin nur plakativ gewesen wäre.
evangelisch.de: Magst du keine Antworten?
Moya: Keine falschen und vorgeschobenen jedenfalls. Wer mir beispielsweise erklärt, was in dem Amokläufer von Winnenden innerlich abgelaufen ist, dem glaube ich einfach nicht. Worum geht es in einem solchen Fall? Um Armut, Reichtum, soziale Isolation oder den Waffenclub? Menschen, die derart die Kontrolle verlieren, sind einfach zu komplex und vielschichtig. Mich ärgert, dass dann versucht wird, solche Ereignisse mit einem Satz oder einer Antwort zu bebildern. Mit Computerspielen, einer bestimmten Art von Musik oder Pornos ist so etwas jedenfalls nicht zu erklären.
evangelisch.de: Womit dann?
Moya: Wie gesagt, das ist sehr komplex. Ich glaube, wenn man als junger Mensch genug Liebe erfährt und selbst Liebe geben kann, haben Gewaltspiele oder Pornos keinen bleibenden negativen Effekt. Bei mir war das jedenfalls so. Wenn man etwas hat, was man liebt, die Familie, ein Hobby, den Beruf, dann hat man ein riesiges Schutzschild.
Der "Joker" als Vorbild
evangelisch.de: Computerspiele verbieten wäre also für dich keine Lösung?
Moya: So etwas führt vom Kern des Problems weg. Wenn man Computerspiele verbietet, erstickt das den Keim nicht, aus dem die Gewalt wächst. Ich finde es deshalb zynisch, wenn solche Gesetze überhaupt diskutiert werden, weil damit nur von den eigentlichen Problemen abgelenkt wird.
evangelisch.de: Du warst nie auf einer Schauspielschule. Wie schaffst du es, in eine Rolle wie die des Tobias zu schlüpfen?
Moya: Für mich sind andere Filme und Schauspieler immer eine große Inspiration. Bei der Vorbereitung für "Hilflos" haben mir zum Beispiel "The Dark Knight", "The Game" und "Seven" sehr geholfen. Der "Joker" in "The Dark Knight" ist jemand, der die Werte aufhebelt und das Chaos bringt. Und er ist jemand, der Dinge tut, die man nicht nachvollziehen kann und bei dem ebenfalls stets die Frage "Warum?" im Raum steht. So wie bei Tobias. In der einen Szene sitzt Tobias da und heult und vier Einstellungen später lacht er wieder. Diese Ambivalenz ist sehr spannend.
evangelisch.de: Was war an "The Game" und "Seven" hilfreich?
Moya: In beiden Filmen werden Fährten gelegt, die man erst im Nachhinein versteht, wenn man die Lösung des Films kennt. So etwas finde ich immer großartig. In "The Game" manipuliert Sean Penn Michael Douglas, in "Seven" bringt der Täter den Polizisten am Ende dazu, das zu tun, was er will. In "Hilflos" gibt es eine Szene, die gar nicht im Drehbuch steht und die Florian Bartholomäi und ich improvisiert haben. In dieser Szene gibt es auch eine Fährte, die auf das Ende hindeutet, ohne dass der Zuschauer es beim ersten Sehen merkt.
evangelisch.de: Du hast gesagt, du magst keine plakativen Antworten. Etwas störend in "Hilflos" fand ich die Lehrer, die mir mit ihrer hilflosen Kuschelpädagogik und Ignoranz etwas zu klischeehaft und plakativ vorkamen.
Moya: Ich habe in meiner Schulzeit eine Lehrerin mit Alkoholproblemen gehabt und einen Chemielehrer, der überhaupt keine Autorität hatte und dem die ganze Klasse auf der Nase rumgetanzt ist. Die waren klischeehafter als in jedem Fernsehfilm. Die Lehrer in "Hilflos" sind meiner Meinung nach schon nah dran an dem, was ich erlebt habe. Große Klassen zum Beispiel, in denen der Lehrer am Ende des Schuljahres noch immer nicht die Namen aller Schüler kannte.
Zusammenarbeit mit Regisseuren
evangelisch.de: Klingt so, als wären in deiner Schulzeit eher die Lehrer als die Mitschüler das Problem gewesen.
Moya: Ich habe mich immer mit den Lehrern angelegt, weil ich nie verstanden habe, warum ich eine Person nicht anzweifeln darf, nur weil sie älter ist oder eine bestimmte Position hat. Das war wohl auch der Grund, warum ich in der Schule nichts gerissen habe.
evangelisch.de: Kommst du mit Regisseuren besser zurecht?
Moya: Ein guter Regisseur ist nicht qua Position eine Autoritätsperson sondern jemand, mit dem man etwas erarbeitet. Dadurch bekommt er dann Autorität. Ein Regisseur, der brüllen muss, damit man seine Vorstellungen umsetzt, macht definitiv etwas falsch. Ein brüllender Lehrer übrigens auch.
evangelisch.de: Du hast mit 17 die Schule ohne Abschluss verlassen, um Schauspieler zu werden. War das nicht ein hohes Risiko?
Moya: Ich habe das nicht so empfunden. Ich wusste genau, was ich machen will und machen muss, nämlich Schauspieler werden. Ich bin von der Schule abgegangen, als man mir ein Filmprojekt nicht genehmigen wollte. Das Projekt abzusagen erschien mir als das größere Risiko.
Segej Moya wurde 1988 in Berlin geboren. Bereits mit 13 Jahren war er in Filmen wie "Emil und die Detektive" und "Frau2 sucht HappyEnd" zu sehen. Mit 17 Jahren brach er die Schule ab, um seinen Traum, Schauspieler zu werden, zu verwirklichen. Er spielte neben Götz George in "Schimanski", Henry Hübchen in "Commissario Laurenti" und Uwe Ochsenknecht in "Der beste Lehrer der Welt". 2007 wurde er als beliebtester Shootingstar für die "Goldene Romy" nominiert. Der Tatort "Hilflos" ist bereits Moyas vierter Film aus der beliebten Krimireihe.
Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Medien und Kultur.