"Eine Vorhersage von Erdbeben ist zur Zeit nicht möglich." Dr. Heiko Woith vom GeoForschungszentrum Potsdam (GFZ) ist da kategorisch. Er arbeitet im GFZ in der Abteilung 2, Erdbebenrisiko und Frühwarnung. Er und seine Kollegen um Sektionsleiter Professor Dr. Jochen Zschau wissen, was geht und was nicht – sie forschen unter anderem zu dem "Risikogebiet Megacity", um Großstädte vor Erdbeben und ihren Folgen zu schützen, und an einem Echtzeit-Warnsystem für Nachbeben großer Erdschwankungen.
Aber ein Warnsystem ist nicht das Gleiche wie eine Vorhersage. Die ist mit den aktuellen Mitteln der Forschung nicht machbar, allerdings haben nicht alle Wissenschaftler die Hoffnung aufgegeben: "Es gibt in der wissenschaftlichen Community zwei Lager. Die eine Gruppe sagt, Erdbeben sind nicht vorhersagbar. Die anderen sagen: Wir müssen noch mehr lernen, wir müssen noch mehr Daten sammeln, vielleicht kann es uns irgendwann gelingen." Aber Woith weiß: Wenn nicht unmöglich, ist es doch sehr, sehr komplex.
Unsichtbare, 140 Jahre alte Spannungen
Denn was unter der Erdoberfläche passiert, ist nicht sichtbar und auch nicht immer rechtzeitig messbar. Schwere Erdbeben wie das in Haiti entstehen durch ruckartige Verschiebungen von Gesteinsschollen im tieferen Bereich der Erdkruste. Seit Urzeiten treiben große Teile der Erdkruste, so genannte tektonische Platten, auf flüssigem Gestein wenige Zentimeter oder nur Millimeter pro Jahr langsam um den Globus. Diese tektonischen Platten können größer als ein Kontinent sein. Dort, wo sie aneinander stoßen, überlagern sich die Platten, verhaken sich, kollidieren. Gebirge entstehen, ebenso wie lang aufgestaute Spannungen. Die können sich dann schlagartig in Beben entladen.
Das Erdbeben in Haiti entstand an der Grenze zwischen der karibischen und der nordamerikanischen Platte. Im südlichen Teil des Systems rutscht die kleinere karibische Platte Richtung Osten an der nordamerikanischen vorbei, die sich Richtung Westen bewegt. Bei einem "Sprung" der verhakten Platten soll sich eine mehr als 140 Jahre lang aufgebaute Spannung entladen haben.
Das lässt sich nicht vorhersagen, aber manchmal vorzeitig bemerken. "Unter bestimmten geologischen Voraussetzungen funktioniert ein Frühwarnsystem gut", erklärt Woith. Mexiko City oder Japan seien gute Beispiele: Die meisten Erdbeben in Mexiko starten unterseeisch, und die aufgestellten Messgeräte entdecken das Epizentrum, bevor die seismischen Wellen Mexiko City erreichen.
Die Armen Haitis hatten keine Chance
In Haiti hätte aber auch ein solches Frühwarnsystem nichts gebracht. "Es gibt Gegenden, in denen eine Frühwarnung physikalisch einfach nicht geht", erläutert Woith. In Haiti lag das Epizentrum des Bebens in nur 17 Kilometer Tiefe – für geologische Begriffe ist das flach. Die Schockwellen verbreiten sich mit mehreren Kilometern pro Sekunde durch die Erdkruste. Woith: "Da sagen das Seismometer und das Haus gleichzeitig Bescheid." Die einzige Chance ist, nicht dort zu wohnen – aber die Möglichkeit gibt's in den Armenvierteln von Port-au-Prince nun mal nicht.
"Selbst wenn man mit einem Erdbeben gerechnet hätte, würden die Leute da wahrscheinlich genauso bauen, weil sie gar keine anderen Ressourcen haben", sagt Martin Voss, Leiter der Katastrophenforschungsstelle in Kiel. Die Slums an den Berghängen von Port-au-Prince waren besonders stark betroffen, und da gibt es keine Häuser, die einem Erdbeben standhalten könnten. "Wenn die Bevölkerung so verarmt ist, dann baut man eben nach dem Motto Hauptsache ein Dach über dem Kopf", sagt Voss. Beim Wiederaufbau müsse man versuchen, das mögliche Schadenspotential zu reduzieren.
Beim Erdbeben ins Freie flüchten
Der Ort des Epizentrums eines Bebens ist entscheidend für die Folgen. Selbst schwerste Erdbeben mit einer Stärke von 8,0 oder mehr auf der Richter-Skala richten in mehr als 100 Kilometern Tiefe keinen Schaden an, auch wenn sie die Erdoberfläche zum Schwingen bringen. Gefährlicher ist das Gerüttel, das bei flachen Beben entsteht – Gebäude halten solchen Erschütterungen nicht stand.
Die Natur hingegen schon, weshalb das GeoForschungszentrum empfiehlt, bei einem Erdbeben ins Freie zu flüchten. Manchmal ist das aber auch nicht machbar. Geologe Woith kennt das aus eigener Erfahrung: Ein Erdbeben der Stärke 5,5 hat ihn und einen Kollegen eines Nachts in der Türkei im vierten Stock eines Gästehauses erwischt. "Springen ging nicht, also haben wir überlegt: wenn wir jetzt loslaufen, stecken wir irgendwo im Treppenhaus fest." Also stellten die beiden Forscher sich in den Türrahmen – eine der stabilsten Stellen in Häusern –, fühlten die Wände wackeln und warteten auf das Ende des Bebens: "Viel mehr kann man da nicht machen."
Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen, und schreibt das Blog "Angezockt".