Deutsche Politiker haben sich nach Einschätzung des Frankfurter Politikwissenschaftlers Cornelius Friesendorf in den vergangenen Jahren um eine klare Debatte über die Ziele, Mittel und Länge des Engagements in Afghanistan gedrückt. Daher rührten die heftigen Reaktionen auf die Neujahrspredigt der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischöfin Margot Käßmann, sagte der Afghanistan-Experte der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main dem epd. Käßmann hatte eine "Militarisierung" des deutschen Engagements kritisiert und einen Abzugsplan für die Bundeswehrsoldaten verlangt.
Verantwortliche Politiker haben "den Einsatz kleingeredet"
Die verantwortlichen Politiker hätten der Öffentlichkeit viel früher klar mitteilen müssen, dass der Bundeswehreinsatz in Afghanistan etwas fundamental Neues sei, sagte Friesendorf: "Deutschland beteiligt sich faktisch an einem Krieg." Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg hätten im Juli 2009 deutsche Bodentruppen mit schweren Waffen ein Gefecht geführt. Dagegen hätten die verantwortlichen Politiker den militärischen Einsatz mit der Formel kleingeredet, deutsche Soldaten seien als Teil der NATO und im Auftrag der Vereinten Nationen zu einer "Stabilisierungsaktion" in Afghanistan. Die Bundeswehr hat nach eigenen Angaben bisher 36 Tote in Afghanistan zu beklagen, darunter 19 durch feindliche Angriffe.
Die Politik habe eine offene Debatte um den Afghanistan-Einsatz aus Angst vor der Reaktion der Bevölkerung vermieden, erklärte Friesendorf. Daher breche die Debatte nun umso heftiger auf. "Jetzt wird gefragt: Wo soll das hinführen?" In der Bevölkerung gebe es ein Unbehagen, weil niemand sich über die wirklichen Ziele im Klaren sei. Außerdem konzentriere sich die internationale Diskussion zu sehr auf den militärischen Einsatz. Dieser sei notwendig, aber daneben sei ein starkes Engagement für den zivilen Aufbau notwendig.
Grüne wollen deutsche Polizeieinheit für Afghanistan
Derweil fordern die Grünen den Aufbau einer deutschen Polizeieinheit für die Ausbildung von Sicherheitskräften in Afghanistan. Diese Einheit sollte mit einer konkreten Soll-Stärke an Polizisten versehen werden und bei der Bundespolizei angesiedelt sein, sagte der Grünen-Verteidigungsexperte Omid Nouripour auf dem Weg ins afghanische Masar-i-Scharif. In Afghanistan sind derzeit mehr als 100 deutsche Polizeiausbilder im Einsatz. Wiederholt gab es Forderungen, dieses Kontingent aufzustocken. Während einige Bundesländer relativ viele Beamte für Afghanistan freistellten, beteiligten sich andere Länder - wie Bayern - kaum, sagte Nouripour.
Zudem gebe es immer wieder Klagen von Polizisten, dass ihnen Hindernisse in den Weg gelegt werden, wenn sie sich für Afghanistan meldeten. Viele fürchteten einen "Karriereknick" bei ihrer Rückkehr. "Sie kommen dann auf Posten unter denen, die sie vorher hatten", sagte der Abgeordnete. Auch gebe es beim Thema Polizeiausbilder für Afghanistan bislang ein "Riesen-Wirrwarr" für die betroffenen Polizisten, die Bundesländer und die Bundesregierung. Eine eigene Polizeieinheit könnte hier mehr Planungssicherheit bringen, meinte Nouripour. An der Freiwilligkeit für so einen Einsatz sollte sich aber nach seinen Worten nichts ändern.
Feldjäger könnten der Polizei helfen
Rechtlich gesehen wäre der Aufbau einer solchen Einheit laut Nouripour kein großes Problem. "Das ist eine Frage des Wollens." Er regte an, dass sich auch die Feldjäger der Bundeswehr stärker an der Polizeiausbildung beteiligen. "Wir wissen, dass der Polizei-Job in Afghanistan viele militärische Komponenten beinhaltet." Die Feldjäger helfen laut Nouripour bereits wo sie nur können bei der Ausbildung, jedoch nicht "systematisch". Nach jüngsten Medienberichten könnte die Bundesregierung bei der internationalen Afghanistan-Konferenz Ende Januar in London auf US-Forderungen nach mehr Soldaten für Afghanistan mit einem stärkeren Engagement bei der Polizeiausbildung reagieren.
Nouripour hält sich derzeit in Afghanistan auf, um sich vor allem über den Aufbau der Polizei und die Stimmung bei den Bundeswehr- Soldaten zu informieren. Anfang September waren bei einem von der Bundeswehr befohlenen Luftangriff auf zwei von Taliban entführte Tanklaster bis zu 142 Menschen getötet oder verletzt worden, darunter auch Zivilisten. Zur Aufklärung dieser sogenannten Kundus-Affäre hatte sich im Dezember ein Bundestags-Untersuchungsausschuss konstituiert. Er setzt seine Untersuchungen voraussichtlich Ende Januar fort.
Karsai benennt neues Kabinett
In Afghanistan selbst hat Präsident Hamid Karsai eine Woche nach seiner schweren Niederlage im Parlament neue Kandidaten für sein Kabinett vorgestellt. Dieser zweite Anlauf war nötig, nachdem die Abgeordneten am Samstag vergangener Woche 17 der vorgeschlagenen 24 Mitglieder einer Regierungsmannschaft die Zustimmung verweigert hatten. Bei den neu vorgeschlagenen Ministern sind auch drei Frauen.
Nach der von Betrug überschatteten Präsidentenwahl im November steht Karsai unter wachsendem Druck des Westens, gegen die weit verbreitete Korruption vorzugehen und sein vom Krieg zerrissene Land acht Jahre nach dem Fall des Taliban-Regimes zu befrieden. Am 28. Januar ist in London eine weitere internationale Afghanistan-Konferenz geplant.