Als die 22 Jahre alte Joelle (Name geändert) auf Hilfe hoffte, war niemand für sie da. Die junge Frau hockte auf einem Feld in Masisi im Osten Kongos, wo sie aufgewachsen ist. "Ich habe Unkraut gejätet, die Sonne stand hoch am Himmel, als sie kamen - es waren viele bewaffnete Männer", erinnert sie sich mit stockender Stimme. "Hinterher bin ich zurück zum Haus, ich konnte kaum laufen, mir lief Blut die Beine herunter. Ich dachte, ich muss sterben." An diesem Tag endete ihr bisheriges Leben.
Von der Familie verstoßen
Als Joelle sich ihrem Mann nach der Stunden andauernden Massenvergewaltigung anvertrauen will, verstößt er sie. Ihre Kinder darf sie bis heute nicht mehr sehen. Von einer zweiten Vergewaltigung in einem Wäldchen nahe des Vertriebenenlagers Mugunga 1, wo sie Unterschlupf fand, ist sie schwanger. Selbst ihre eigene Familie redet seitdem nicht mehr mit ihr. Doch Joelle klagt niemanden an. In der umkämpften Provinz Nord-Kivu im Osten Kongos gehören Schicksale wie ihres zum Alltag.
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Schutz genießt in der Region, die von mehr als 15 Jahren Bürgerkrieg gegeißelt ist, schon lange niemand mehr. Spätestens seit dem Genozid im benachbarten Ruanda 1994, in dessen Folge militante Hutu-Milizen aus Angst vor Verurteilung in den Kongo strömten, ist die mineralreiche und fruchtbare Region ins Chaos gestürzt. Jeder kann ein Täter sein: Rebellen, Banditen oder Soldaten der Regierungsarmee, die gleichermaßen marodierend durch die Lande ziehen. Wenn Joelle weiß, wer sie vergewaltigt hat, dann sagt sie es nicht. Es könnte ihr Todesurteil sein.
Seelische Verletzungen ernst nehmen
Die einzige, der Joelle alle Details ihrer Horrorgeschichte anvertraut hat, ist Lisa Mangaza. Die in Psychotherapie trainierte Sozialarbeiterin arbeitet für das kongolesische Rote Kreuz. Mit ihr trifft sich Joelle einmal pro Woche in dem engen Häuschen, über dessen Tür 'Maison d'Écoute' (Haus des Zuhörens) steht. Wie Joelle suchen viele der gut 5.000 Flüchtlinge im Vertriebenenlager Hilfe, lange nachdem die körperlichen Wunden verheilt sind. "Es sind die seelischen Folgen, die vielen jahrelang zu schaffen machen, und die sie letztlich hierhin treiben", erklärt Mangaza.
Dafür, dass die Verletzungen der Seele ebenso ernst genommen werden müssen wie körperliche Versehrtheit, kämpft Elena Lucchetti seit Jahren. Die italienische Psychologin koordiniert für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) die Arbeit der Maisons d'Écoute, von denen es in der Nord- und Süd-Kivu im Osten Kongos mittlerweile fast 40 gibt. Weitere sollen folgen: Lucchetti befürchtet, dass die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung weiter zunehmen wird.
"Den Opfern helfen, sich selbst Normalität vorzuspiegeln"
"Wir sehen, wie Vergewaltigungen immer brutaler werden und als eine Art Folter eingesetzt werden", erklärt Lucchetti, die schon seit vielen Jahren im Kongo lebt. "Es geht darum, Angst und Terror zu verbreiten." In den Vertriebenenlagern machen Geschichten die Runde wie die von der Frau, die gezwungen wurde, ihren erschossenen Mann mit einer Machete in Stücke zu hacken. Dann vergewaltigten neun Rebellen die Frau nacheinander, während sie auf den blutigen Überresten ihres Mannes lag. Es sind Geschichten, die sich niemand ausdenken kann, so brutal sind sie.
"Nach Jahren dieses unmenschlichen Krieges ist die soziale Architektur zusammengebrochen", flüstert Lucchetti. Die Milizen und Soldaten brechen auch die letzten Tabus, um ihre absolute Macht zu beweisen. "Es geht um die ultimative Erniedrigung, die Botschaft: ich bin alles, und du bist nichts."
Lucchetti ist bewusst, dass tiefe Traumata in der kurzen Zeit, die Therapeut und Opfer miteinander verbringen, nicht verarbeitet werden können. "Aber wir können den Frauen helfen, irgendwie wieder den Alltag zu bewältigen, und sei es, indem wir den Opfern helfen, sich selbst Normalität vorzuspiegeln." Im vom Gewalt zerrütteten Osten Kongos ist selbst das schon etwas Außergewöhnliches.