TV-Tipp des Tages: "Helmut Schmidt: Lebensfragen" (ARD)

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TV-Tipp des Tages: "Helmut Schmidt: Lebensfragen" (ARD)
TV-Tipp des Tages: "Helmut Schmidt: Lebensfragen", 23. Dezember, 21.45 Uhr im Ersten
Regisseur Sebastian Orlac durfte bei seinen Recherchen Einblicks ins private Archiv nehmen, zwanzig Realmeter mit Alben, die Helmut Schmidt und seine verstorbene Gattin Loki selbst gestaltet und kommentiert haben.

Kein aktiver Politiker genießt auch nur annähernd so viel Ansehen wie Helmut Schmidt. 1986 ist er aus dem Bundestag ausgeschieden. Seither kann er Stellung quasi ohne Rücksicht auf Verluste beziehen. Seine Aussagen mögen nicht immer im Einklang mit seiner früheren Politik stehen, aber ihre Klarheit wird großen Anteil an seiner Popularität haben. Im Grunde ist alles über den Bundeskanzler a.D., der am 23. Dezember 95 Jahre alt wird, geschrieben und gesagt. Trotzdem ist dieser Film von Sebastian Orlac (Buch) und Ben von Grafenstein (Regie) auch dann sehens- und empfehlenswert, wenn man glaubt, bereits eine Menge über Schmidt zu wissen.

Hanseatische Distanz und verstohlene Seitenblicke

Das hat mehrere Gründe: Orlac durfte bei seinen Recherchen Einblicks ins private Archiv nehmen, zwanzig Realmeter mit Alben, die Schmidt und seine verstorbene Gattin Loki selbst gestaltet und kommentiert haben. Außerdem traf sich der Altkanzler, der nach wie vor keineswegs bloß auf dem Papier als Herausgeber der "Zeit" fungiert, zweimal mit seinem Chefredakteur Giovanni di Lorenzo. Die beiden haben bereits das eine oder andere Interviewbuch zusammen gestaltet, sie kennen sich also recht gut. Das erste Gespräch fand in Schmidts Büro statt und ist in jeder Hinsicht eher förmlich ausgefallen: Schmidt trägt Anzug, di Lorenzo stellt Fragen wie aus dem berühmten Fragebogen von Marcel Proust. Das zweite fand in Schmidts Wochenendhaus am Brahmsee statt, er ist leger gekleidet und spricht über Erinnerungen. Natürlich bleibt eine gewisse hanseatische Distanz spürbar, aber es gelingen immer wieder verstohlene Seitenblicke, die Schmidt beim versonnenen Blättern in den eigenen Alben zeigen, und man hat das Gefühl: So nah hat er eine Kamera nie an sich herangelassen.

Ganz entscheidenden Anteil an der Wirkung des Films haben auch die Spielszenen. In den mit unter anderem Ludwig Blochberger (als junger Mann) und Bernhard Schütz (als Hamburger Innensenator und Kanzler) glaubwürdig besetzten und alles andere als spekulativ inszenierten Rückblenden werden die wichtigsten Wendepunkte in Schmidts Leben rekonstruiert: wie ihm sein Vater in Kombination mit einer Ohrfeige 1933 verbietet, in die Hitlerjugend einzutreten; wie er sich 1941 dafür entscheidet, an einem Krieg teilzunehmen, den er ablehnt; wie er 1977 gemeinsam mit Loki beschließt, im Fall einer Entführung durch Terroristen nicht ausgetauscht zu werden. Mitunter würde man allerdings gern mehr über die Motive erfahren, die die Grundlage der Entscheidungen waren; Schmidts Beharren auf dem Nato-Doppelbeschluss (1979) zum Beispiel, der seine Partei ebenso entzweite wie die Bevölkerung, wird nicht weiter erläutert, weder in der szenischen Rekonstruktion noch im Gespräch.

Andererseits bleiben einige Lücken ganz bewusst, weil der eine fast buddhistische Gelassenheit ausstrahlende alte Herr selbst dem treuen di Lorenzo nicht jede Frage beantwortet. Manche sind ihm offenbar schlicht zu blöd: "Welche Erfahrungen würden sie gern rückgängig machen?" – "Man kann überhaupt nichts rückgängig machen". Bei anderen verweigert er die Aussage ("Dazu sage ich nichts.") Selbst in diesen Momenten aber wirkt Schmidt keineswegs störrisch, sondern nach wie vor staatsmännisch, und ein mehr spür- als sichtbares Funkeln in den Augen deutet an, dass ihm der Schlagabtausch durchaus Spaß macht.