Hamburg, Frühjahr 2013: Eine lose Gruppe von 300 Flüchtlingen lebt wochenlang bei Dauerregen im Freien und bekommt einen Platzverweis nach dem anderen. Diese Männer sind in Hamburg fortan als "Lampedusa-Flüchtlinge" bekannt. Sie kommen aus afrikanischen Staaten wie Ghana oder Mali, die meisten von ihnen sollen Wanderarbeiter in Libyen gewesen sein, die in den Wirren des Bürgerkriegs nach Europa flüchteten.
In Italien kamen sie in Flüchtlingslagern unter, die bald geschlossen wurden. Die Behörden verteilten 500 Euro pro Kopf und ein Touristenvisum für den Schengen-Raum – quasi eine Aufforderung, Italien zu verlassen. Und das, obwohl die Flüchtlinge nach dem umstrittenen Dublin II-Abkommen nur in Italien einen Asylantrag stellen können, da sie dort zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben.
So kommt ein Teil der Flüchtlinge nach Hamburg. Mit dem Touristenvisum dürfen sie hier nur bis zu drei Monate bleiben. Die sind zum Teil schon überschritten. Die Behörden wollen die Flüchtlinge zurück nach Italien schicken.
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Hamburg, 2. Juni 2013: 80 Flüchtlinge der Lampedusa-Gruppe finden in der St. Pauli-Kirche Zuflucht. Eine Welle der Solidarität erreicht die Kirchengemeinde in den kommenden Wochen und Monaten. Menschen spenden Geld, Sachen oder auch ihre Zeit, um sie mit den Flüchtlingen zu verbringen. Die richten es sich in der Kirche ein, werden zu einem Mittelpunkt des Gemeindelebens. Die Gemeinde feiert ihre Gottesdienste weiterhin in der Kirche. Die Nordkirche verhandelt mit den Behörden. Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) verkündet, die Zukunft der Flüchtlinge liege nur in Italien. Nachdem der italienische Botschafter zu Gesprächen einbestellt wurde, erklärt sich Italien bereit, die Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Die wollen aber in Deutschland bleiben.
Berlin-Hellersdorf, Mitte August: Angeführt von rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien und Gruppen protestieren Bürger vor einem neu eröffneten Asylbewerberheim.
Lampedusa, 3. Oktober: Vor der Küste der italienischen Insel brennt ein Flüchtlingsschiff, auf dem über 500 Menschen nach Europa übersetzen wollten. 336 sterben.
Berlin, 9. Oktober: Eine Gruppe von Asylbewerbern tritt vor dem Brandenburger Tor in den Hungerstreik. Sie wollen eine Anerkennung ihrer Asylanträge erkämpfen. Immer wieder kommt der Notarzt. Politiker, Kirchenvertreter und Beamte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sprechen mit den Männern, nach elf Tagen brechen sie den Streik ab. Vorübergehend finden sie in einem Gebäude der evangelischen Heilig-Kreuz-Passions-Gemeinde Unterkunft. Dort werden auch Obdachlose betreut. Bald ziehen die Flüchtlinge auf Betreiben der Caritas in Wohnungen der katholischen Aachener Wohnungsgesellschaft um.
Hamburg, Mitte Oktober: Der Streit um eine Aufenthaltsgenehmigung für die Lampedusa-Flüchtlinge spitzt sich zu. Unterstützer wollen eine Gruppenlösung für die Afrikaner erreichen. Allen 300 Flüchtlingen soll ohne Einzelfallprüfung humanitäres Bleiberecht gewährt werden, da die Zustände in italienischen Flüchtlingslagern unzumutbar wären. Der Senat lehnt das ab. Jedes Schicksal müsse geprüft werden. Dafür müssten sich die Männer aber bei der Ausländerbehörde melden und einen Antrag auf Bleiberecht stellen. Das wollen sie nicht, denn der Senat hat immer wieder signalisiert, diese Anträge abzulehnen. Innensenator Neumann verteidigt diese Linie in seinem Blog. Die Polizei verstärkt die Personenkontrollen. Die St. Pauli-Kirche wird mehrere Tage lang "belagert", wie Pastor Sieghard Wilm es nennt.
Brüssel, 25. Oktober: Ein EU-Gipfel zur Flüchtlingspolitik geht ohne konkrete Ergebnisse zu Ende. Deutschland und andere Länder im Norden beharren auf der Dublin II-Regelung.
Niger, Ende Oktober: In der Sahara werden die Leichen von 85 Verdursteten gefunden. Sie waren auf dem Weg nach Norden.
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Hamburg, 29. Oktober: Die St. Pauli-Flüchtlinge wollen der Aufforderung der Innenbehörde nachkommen und sich melden. Damit wird eine Einzelprüfung ihrer Schicksale möglich. Die Gruppe Lampedusa in Hamburg weigert sich weiter, mit dem Senat zu kooperieren. In dieser Gruppe hat sich ein Teil der Libyen-Flüchtlinge zusammengeschlossen, die nicht in der Kirche wohnen.
Frankfurt am Main, Anfang November: Evangelische Gemeinden öffnen ihre Türen für 22 afrikanische Männer aus Ländern wie Nigeria oder Ghana. Zuvor haben sie wochenlang unter einer Brücke am Main übernachtet. Viele von ihnen haben schon mehrere Jahre in Italien und anderen südeuropäischen Staaten gelebt. Wie die St. Pauli-Flüchtlinge sind auch sie nur mit einem Touristenvisum nach Deutschland gekommen, das teilweise schon ausgelaufen ist. Zunächst leben sie in Räumen der Cantate Domino-Kirche, ziehen aber wenig später in die entwidmete Gutleutkirche um. Handwerker bauen ehrenamtlich Holzwände in die Kirche ein, so entstehen abgetrennte Zweier- oder Dreierzimmer.
Berlin, Mitte November: 80 Flüchtlinge aus einem Protestcamp am Kreuzberger Oranienplatz ziehen vorläufig in ein Heim der Caritas. Seit Monaten hatte sich der Bezirk Kreuzberg um eine feste Bleibe für den Winter für die Männer bemüht, die mit ihren Protesten eine bessere Behandlung von Flüchtlingen ererichen wollten.
Frankfurt, 20. November: Am Buß- und Bettag nimmt die evangelische Wichernkirche zwei Flüchtlinge auf.
Berlin, 27. November: Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD steht. In der Flüchtlingspolitik soll sich einiges ändern: Geduldete sollen ein großzügigeres Bleiberecht bekommen. Das Asylverfahren soll verkürzt werden – von bislang durchschnittlichen neun auf künftig drei Monate. Die umstrittene Residenzpflicht, die es Asylsuchenden und Geduldeten verbietet, ihre Stadt oder ihren Landkreis zu verlassen, soll gelockert werden.
Volker Jung, Kirchenpräsident in Hessen-Nassau und Vorsitzender der Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), sagt: "Das zeigt meines Erachtens, dass langsam auch in der Politik der Gedanke Raum greift: diese Menschen möchten sich von Anfang an aktiv und möglichst selbstbestimmt ins öffentliche Leben unseres Landes einbringen und sie sollten das auch dürfen." Volker Jung kritisiert allerdings, dass der Koalitionsvertrag nicht an der Abschottung der EU-Außengrenzen rüttelt: "Asylsuchende müssen auf legale Weise Zugang zu einem fairen und effektiven Asylverfahren erhalten", findet er.
Brüssel, 3. Dezember: Die EU startet ihr Programm EUROSUR zur besseren Überwachung der Außengrenzen.
Brüssel, 16. Dezember: EU und Türkei schließen ein Abkommen. Die Türkei muss in Zukunft alle illegalen Flüchtlinge zurücknehmen, die über ihr Territorium in die EU eingereist sind. Derzeit sind das vor allem Syrer, Iraner und Afghanen.
Mitte Dezember: Bislang hat sich wenig getan, was den Aufenthaltsstatus der Kirchen-Flüchtlinge in Deutschland angeht. Noch werden Anträge geprüft, laufen Verfahren. Die Flüchtlinge erwartet im Zweifelsfall ein langer, bürokratischer Weg. Am Ende droht die Abschiebung.
In Berlin einigt sich ein Runder Tisch kurz vor Weihnachten darauf, dass die rund 25 Hungerstreik-Flüchtlinge vom Brandenburger Tor noch bis März in ihren Unterkünften bei der Aachener Wohnungsgesellschaft bleiben dürfen. Der Runde Tisch wurde von den Kirchen initiiert, an ihm kommen Kirchvertreter, Bezirkspolitiker, Flüchtlinge und Unterstützer zusammen. Der Berliner Senat will sich nicht beteiligen. Der Runde Tisch will sich auch darum bemühen, eine Lösung für den Konflikt um das Protestcamp am Oranienplatz zu finden. Bezirksbürgermeisterin Herrmann weigert sich weiterhin, das Camp räumen zu lassen.
Die Hamburger St. Pauli-Flüchtlinge leben jetzt in Wohncontainern bei drei verschiedenen Kirchengemeinden. Die Behörden haben die Aufstellung der Container bis Mai 2014 genehmigt. Die Sozialbehörde übernimmt einen Teil der Kosten. Pfarrer Wilm geht davon aus, dass sich die meisten bei den Gemeinden lebenden Flüchtlinge mittlerweile bei den Behörden gemeldet haben. "Das zu überprüfen, steht uns allerdings nicht zu." Wilm ist froh, dass die Flüchtlinge der Behörde entgegenkommen. "Die Alternative wäre der Belagerungszustand durch die Polizei."
Wie lange die Frankfurter Gutleutkirche noch das Zuhause der 22 Männer sein wird, steht in den Sternen. Pfarrerin Sabine Fröhlich sagt: "Uns geht es erstmal darum, die Gruppe über den Winter zu bringen."
Was bleibt vom Engagement der Kirchengemeinden? Ob in Hamburg, Frankfurt oder Berlin: Überall zeigte sich große Solidarität. Es fanden sich Deutschlehrer, Einkäufer, Handwerker, Bewacher, Köche. Auf einmal kamen Menschen in die Gemeinden, die dort selten oder noch nie gesehen worden waren. Occupy-Aktivisten saßen neben den Damen vom Seniorenkreis.
Der Einsatz der Kirchen gefiel nicht jedem. War da zu viel Enthusiasmus für die eigene Hilfsbereitschaft entstanden? Manchen Beteiligten überkamen Selbstzweifel. "Helfen wir Obdachlosen genauso sehr?", fragte eine Frau, die säckeweise Kleidung und Schuhe anschleppte.
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Vor allem in Frankfurt nahm die Kirche Männer auf, die schon lange in Italien oder Spanien lebten, bevor sie nach Deutschland kamen. Dort hatten sie eine Aufenthaltsgenehmigung und Arbeit. In der Krise verloren sie ihre Jobs. Kamen sie wirklich direkt aus größter Not? Ist "Flüchtling" der richtige Begriff für sie? Müsste man sie nicht eher Wanderarbeiter nennen? Kritiker wie der SPD-Flüchtlingsexperte Rüdiger Veit warfen Helfern vor, bei den Flüchtlingen falsche Hoffnungen auf eine schnelle Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung und eine Gruppenlösung zu wecken.
Sieghard Wilm würde die Türen seiner Kirche wieder öffnen. "Was hier passiert ist, setzt ein Zeichen", glaubt er. Viele Hamburger Kirchengemeinden engagieren sich jetzt für Flüchtlinge. Die Frankfurter Pastorin Sabine Fröhlich versucht, die "unglaubliche Unterstützungswelle von überall her" zu koordinieren.
"Es ist anstrengend und gleichzeitig wunderbar", sagt Fröhlich. Pastor Wilm ist überzeugt: "Die gelebte Solidarität von St. Pauli ist ein Gegenmodell zu den Protesten in Berlin-Hellersdorf."