Sie hatte ihren Tod vorausgesehen. Leutnant Negar, Afghanistans ranghöchste Polizistin, fiel Mitte September einem Mordanschlag zum Opfer. Die 38-Jährige war auf einem Patrouillengang in der unruhigen Provinz Helmand, als Unbekannte auf einem Motorrad sie mit einem Kopfschuss töteten. "Dies ist Afghanistan. Seit 30 Jahren wird in diesem Land gekämpft. Gefährliche Dinge passieren: entweder du lebst oder stirbst. Wir haben keine Angst vor dem Tod", hatte Negar erst wenige Tage zuvor in einem Interview mit Radio Free Afghanistan erklärt.
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Negar, die nur mit ihrem Nachnamen genannt wurde, war die dritte getötete Polizistin binnen weniger Wochen. Extremisten räumten die weiblichen Ordnungskräfte aus dem Weg. Ohnehin machen Frauen weniger als ein Prozent der afghanischen Polizei aus.
Afghanistans ultrakonservative Gesellschaft macht es Frauen nicht leicht, einen Beruf zu verfolgen - und schon gar nicht, wenn sie öffentliche Autorität ausüben. Obwohl das Leben für viele Frauen in Afghanistan sich seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 deutlich verbessert hat, gilt das Land immer noch als eines der gefährlichsten für Frauen weltweit. Und vor dem Hintergrund des Nato-Abzuges im kommenden Jahr wächst die Angst, dass sich die Situation wieder verschlechtern könnte.
Viele Frauen sind bei der Heirat zwischen zehn und 13 Jahre alt
Gewalt, Missbrauch und Zwangsheirat gehören für viele zum Alltag. Die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen liegt laut UN-Statistik bei nur 44 Jahren. Kinderehen sind in Afghanistan bei allen ethnischen Gruppen weit verbreitet. Laut afghanischen Menschenrechtlern und Unifem, der Frauenentwicklungsorganisation der Vereinten Nationen, ist bei 57 Prozent aller Hochzeiten im Land einer der Partner jünger als 16 Jahre. Ein Großteil der Frauen werden bereits zwischen zehn und 13 Jahren verheiratet.
Eine afghanische Frau bringt im Schnitt 6,5 Kinder zur Welt, oft ist sie zur Zeit ihrer ersten Schwangerschaft selbst noch ein Kind. Das Risiko ist groß: Afghanistan hat weltweit die zweithöchste Sterblichkeitsrate von Müttern.
Die systematische Isolation von Frauen ist tief verwurzelt
Auch der Zugang zu Bildung bleibt häufig verwehrt. Mehr als 80 Prozent der Afghaninnen können nicht Lesen und Schreiben. Nur knapp 40 Prozent aller Mädchen gehen überhaupt irgendwann einmal zur Schule. In einer Reihe von Gemeinschaften dürfen Frauen und Mädchen das Haus nie verlassen. Arbeit, Schulbesuch oder selbst eine Behandlung im Krankenhaus sind damit oft unmöglich. Die systematische Isolation von Frauen ist tief verwurzelt.
"Frauen in unserer Gesellschaft sind von vielem ausgeschlossen", sagte Kabuls Gouverneur Abdul Jabbar Taqwa auf einen Treffen mit Aktivistinnen im November. "Es gibt viele Menschen, die Frauen so behandeln wie in der Vergangenheit, als Ware."
Die afghanische Menschenrechtskommission hat in diesem Jahr wieder zunehmende Gewalt gegen Frauen verzeichnet und an die Regierung appelliert, für besseren Schutz zu sorgen. In den ersten vier Monaten des Jahres registrierte die Kommission über 2.500 Verbrechen gegen Frauen. Besonders gegen die sogenannten "Ehrenmorde", wo Frauen oder Mädchen wegen angeblicher sittlicher Vergehen von ihrer Familie getötet werden, müsse viel strenger vorgegangen werden, forderte Latifa Sultani, Frauenrechtskoordinatorin der Kommission.
Eingeschüchterte Wählerinnen
Auch die International Crisis Group, ein unabhängiges Forschungsinstitut zur Vermeidung gewaltsamer Konflikte, ist besorgt über die Zukunft der Frauenrechte in Afghanistan: Politiker in den USA und Europa sollten erkennen, dass internationale Gleichgültigkeit die Afghaninnen in der Zeit nach dem Nato-Abzug zurück in eine schreckliche und nicht so weit entfernte Vergangenheit werfen könne.
Die niedrige Beteiligung von Frauen bei den Präsidentschaftswahlen 2014 gilt manchen als Zeichen, wie eingeschüchtert die Wählerinnen bereits wieder sind. Die Anzahl der Frauen unter den registrierten Wählern für die Abstimmung Anfang April liegt nur bei 30 Prozent.