Die Ausstellung, die am Freitag eröffnet wird, betrachtet Anfänge, Entwicklung und Veränderungen des Pfarrhauses, einer der prägendsten Bildungsinstitutionen in der deutschen Geschichte. Sie stellt das Pfarrhaus zudem als einen Erinnerungsort in einen europäischen Vergleichsrahmen. Gezeigt werden zahlreiche Exponate aus Geschichte und Gegenwart. Begleitend finden ein internationales Filmprogramm sowie Diskussionen und Vorträge über die Institution Pfarrhaus statt.
###mehr-artikel###Der Ausstellungstitel "Leben nach Luther" ist ja bewusst doppeldeutig formuliert. Welche Facetten verbergen sich darin?
Bodo-Michael Baumunk: Der Doppelsinn bezieht sich einerseits auf ein luthergemäßes Leben und damit ein sorgsam stilisiertes Missverständnis des 19. Jahrhunderts, wonach der Luthersche Haushalt mit Gastlichkeit und abendlichem Klampfenspiel des Hausvaters gleichsam den Urtypus des Pfarrhauses verkörperte. Andererseits kann man den Titel auch so verstehen: Es gab ziemlich viele Ausprägungen des Pfarrerdaseins nach Luther. Zum Glück, muss man sagen - der große Reformator hatte ja nicht nur sympathische Züge.
Was hat aus dem protestantischen Pfarrhaus überhaupt ein so bedeutendes kulturgeschichtliches Phänomen gemacht?
Baumunk: Der Wille, es dazu zu machen. Die Pfarrfamilie als Modell protestantischer Versittlichung, der Pfarrer als Pionier der Gelehrsamkeit vor allem auf dem Land, die geringe Ausdifferenzierung akademischer Berufe bis in die Neuzeit haben die Bedeutung des Pfarrhauses als Bildungsinstitution maßgeblich befördert. Allerdings ist die Pfarrhaus-Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die das entsprechend zuspitzte und überhöhte, schon aus einem gewissen Gefühl des Bedeutungsverlustes heraus entstanden.
Der Mythos besagt, Martin Luther und Katharina von Bora hätten das evangelische Pfarrhaus begründet. Und in Wahrheit?
Shirley Brückner: Das ist natürlich nicht ganz einfach, es gab ja in dem Sinne keine offizielle Gründung des evangelischen Pfarrhauses - der Luthermythos ersetzt diese Lücke gewissermaßen. Vielmehr war die "Priesterehe" damals nicht nur ungemein skandalös, sondern schlicht reichsrechtlich verboten. Es gehörte also eine Menge Mut dazu, zumal für die Frauen, dieses Wagnis einzugehen. Denn die zukünftige gesellschaftliche Akzeptanz dieser neuen Lebensform war ja noch keineswegs abzusehen. Vielmehr trug die erste Generation der evangelischen Pfarrfamilien die ganze Beweislast der "Gottwohlgefälligkeit" dieser Verbindungen. Die ersten waren der Pfarrer Bartholomäus Bernhardt und die Kembergerin Gertraude Pannier, die sich schon Mitte des Jahres 1521 im doppelten Sinne trauten, im Jahr darauf folgten dann die Bodensteins, die Jonas' und die Bugenhagens.
Wie hat sich das Phänomen "Pfarrhaus" im Lauf der Jahrhunderte gewandelt?
Brückner: Jahrhundertelang war der "Sakralhügel", auf dem Kirche und Pfarrhaus standen, ein in vieler Hinsicht herausgehobener Ort. Der Pfarrer war Repräsentant sowohl kirchlicher wie weltlicher Obrigkeit, als Staatsdiener wie auch als Sachwalter des wahren Glaubens und Hüter der Moral. Er war also qua Amt in dieser exponierten Stellung im Dorf beziehungsweise in der Stadt. Das ändert sich schon im Laufe des 19. Jahrhunderts mit seinen gewaltigen sozialen, gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Veränderungen, die auch vor dem Pfarrhaus nicht halt machen. Das Pfarramt verlor einmal zunehmend sekundäre Funktionen und damit natürlich auch Autorität: wie die Schulaufsicht oder das Personenstandswesen. Außerdem setzte schon lange vor der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert sowohl die Entkirchlichung breiter Massen wie die Auflösung des Zwangskirchentums ein. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen waren nun also ganz andere.
###mehr-info###Im 20. Jahrhundert wird dann auch schließlich die bis dahin gültige Verbindung von Priestertum und Patriarchat in der Person des Pfarrers gelöst, als Frauen nach langen Diskussionen und vielen kleinen Schritten nun vollgültig im Pfarramt standen. Was lange geblieben ist, ist die Einbindung der gesamten Pfarrfamilie in die Repräsentation dieses exemplarischen Lebensmodells – die ganze Familie hatte das, was der Pfarrer auf der Kanzel predigte, mit ihrem Leben zu beglaubigen. Das ist sicherlich einer der Aspekte, weswegen immer mehr Pfarrerinnen und Pfarrer dieses "ganze Haus", dass das Pfarrhaus ja war, nicht mehr wollen. Aus der Berufung zum Pfarramt ist heute oftmals ein ganz normaler Beruf geworden.
Sie wollen mit der Schau die Verschränkungen des Phänomens "Pfarrhaus" mit der allgemeinen Geschichte beleuchten. Wie geschieht das?
Baumunk: Meist auf Umwegen. Wenn Sie die Geschichte der Amtstrachten evangelischer Geistlicher in der Ausstellung verfolgen, spiegeln diese immer auch Zeitgeschichte wider. Das reicht von restaurativen Tendenzen im Vormärz und der textilen Betonung eines eben doch abgehobenen "geistlichen Standes" bis zu – allerdings nur individuellen – Extravaganzen der Nach-68er-Zeit. Spätestens im 20. Jahrhundert werden der Protestantismus und damit auch die Pfarrhäuser politisch. Das zeigt die Ausstellung nicht nur anhand des Kirchenkampfs im "Dritten Reich". In alten Fernsehbeiträgen werden die Besucher manches altvertraute Gesicht aus der Friedensbewegung der 1980er Jahre wiedersehen.
Hat das Pfarrhaus als Bildungsort in anderen Ländern eine vergleichbare Rolle gespielt wie in Deutschland?
Baumunk: In England war das Elementarschulwesen bis in die viktorianische Zeit stark an das Pfarrhaus gebunden. Auch stoßen Sie in der Literatur, etwa in Elizabeth Gaskells Erzählung "Cousine Phillis" auf einen Pfarrhaushalt, in welchem die sublime Bildung der Pfarrerstochter neben den handfesten landwirtschaftlichen Fähigkeiten ihres Vaters besonders hervorgehoben wird. Gelehrte im Talar finden Sie in allen protestantischen Ländern. Die nahezu Gleichsetzung von Pfarrhaus mit Bildung ist dann allerdings schon sehr deutsch, weil hierzulande lange ein besonders emphatischer und auch ideologischer Begriff von Bildung vorherrschte.
Die Liste der Namen von Persönlichkeiten, die aus einem evangelischen Pfarrhaus stammen, ist ebenso lang wie illuster. Was haben diese gemeinsam, was unterscheidet sie? Immerhin reicht die Spannbreite ja von Paul Gerhardt bis Gudrun Ensslin…
Baumunk: Man hat in früheren Zeiten vor allem Dichter, Historiker, Philosophen, also Leute aus den "Wortberufen" hervorgehoben, die im Pfarrhaus wurzelten. Wir zeigen eher Alternativen: Künstler, Naturwissenschaftler, auch Politiker. Mal sieht man eine spezielle Beziehung zum Pfarrhausmilieu in solchen Karrieren, mal sucht man vergeblich. Der Fall Ensslin, den Sie ansprechen, ist interessant insofern, als bei der einzigen Pfarrerstochter der RAF alle von einer prägenden Wirkung des Elternhauses ausgingen – bei den meisten übrigen Gruppenmitgliedern kam niemand auf diese Art der Ursachenforschung.
Heute, so die Grundthese, befindet sich die Institution Pfarrhaus im Umbau. Welche Richtungen werden eingeschlagen?
Brückner: Ja, wir sind mittendrin im Umbau, das zeigen schon die zahlreichen kirchlichen Untersuchungen und Verlautbarungen zur Pfarrerzufriedenheit, zum Leben und neuen Lebensformen im Pfarrhaus. Dem "Sakralhügel" wird man nicht ernsthaft nachweinen, keiner würde heute mehr "Censurgebühren" für "fleischliche Verbrechen" beim Pfarrer entrichten wollen, wie das bis Ende 19. Jahrhunderts üblich war. Die Suche nach einem Platz in der heutigen Gesellschaft ist in vollem Gange. Man muss sich allerdings hüten, die Geschichte des Pfarrhauses als Verfallsgeschichte zu erzählen, wie das gern konservative, kirchliche Kreise sowohl bezüglich der Frauenordination wie auch gegenwärtig im Zuge der Zulassung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Pfarrhaus gerne tun. Ich denke die Glaubwürdigkeit des Lebens im Pfarrhaus wird nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Prinzipiell gibt es ja schon eine Diskrepanz zwischen der Predigt von der Armut im Stall zu Bethlehem und der umfänglichen Absicherung verbeamteter Pfarrer und Pfarrerinnen.
Angesichts der allgemeinen Klage über Bildungsmangel wäre eine Renaissance des Pfarrhauses ja naheliegend. Welche Institutionen könnten an seine Stelle treten?
Baumunk: Als Bildungsmotor hat das Pfarrhaus seine Rolle im 19. Jahrhundert allmählich ausgespielt. Offen gestanden, bin ich froh, dass wir ein staatliches Schulsystem haben und dass das Pfarrhaus mittlerweile vor allem das Wohnhaus der Pfarrfamilie ist – nicht mehr und nicht weniger.
Brückner: Man darf außerdem nicht vergessen: Das Bildungserlebnis des Pfarrhauses war historisch gesehen die meiste Zeit den Pfarrerssöhnen vorbehalten!
Auf welche ausstellungstechnischen Besonderheiten dürfen sich die Besucher freuen?
Baumunk: Wir arbeiten vor allem mit historischen Artefakten, von schönen Beispielen der Genremalerei aus Skandinavien und Deutschland bis hin zu allerlei Memorabilia et Curiosa aus den Pfarrhaushalten von ehedem. Eine Überraschung dürfte es schon sein, dass sich ein vergleichsweise bilderfernes Thema ganz opulent in Szene setzen ließ. An ein paar Stellen setzen wir Trickfilme ein, um Anekdotisches zu vermitteln.
Im Vorfeld der Schau gab es ja einen Aufruf an Zeitzeugen, sich mit Dokumenten, Fotos, Erinnerungen zu beteiligen. Wie war die Resonanz?
Baumunk: Eher mäßig. Man muss wohl einen etwas distanzierten Blick auf das Thema haben, um die Qualitäten von historischen Dingen für eine Ausstellung zu sehen. Als sehr hilfreich hat sich der Umstand erwiesen, dass es bereits museale Sammlungen zur Geschichte von Pfarrhaus und evangelischer Kirche gibt, und dass Landeskirchen ihren Kunstbesitz inventarisieren. So schulden wir etwa dem Pfarrhausarchiv in Eisenach und dem Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart hohen Dank.
Was hat Ihnen bei der Vorbereitung am meisten Spaß gemacht?
Baumunk: Wie bei jeder Ausstellung die Ausgrabung von Schätzen. Und ein Milieu kennenzulernen, das mir bisher eher fremd war. Allerdings ist die Geschichte des Pfarrhauses über ein Jahrhundert lang derart "von innen" heraus geschrieben worden, dass eine Art ethnographische Wahrnehmung von außen einer erweitertern Erkenntnis zumindest nicht im Wege steht.
###mehr-links###Brückner: Entgegen der oftmals vorherrschenden Annahme hat das protestantische Pfarrhaus viel mehr als "alte Bücher, in denen keine Bilder drin sind" zu bieten. Selbst für mich als eingefleischte Milieukundige gab es viele neue Dinge zu ergründen. Allein was man alles in einer Inventarkartei mit über 100.000 Karten an kirchlichem Kunstgut nur einer Landeskirche aufspüren kann, ist gewaltig. Vor allem die immense Fülle der Überlieferung ist faszinierend, wir hätten noch viel länger recherchieren und entdecken können!