Unter anderen Bedingungen würde "Vier Leben" auch als Polit-Thriller mit aufwändigen Actionszenen taugen. Das soll keine Kritik am RBB sein: Angesichts der Umstände hat Regisseur Mark Monheim einen exzellenten "Tatort" gedreht und geschickt kaschiert, dass der Film, der ihm möglicherweise vorschwebte, schlicht am Geld gescheitert ist. Beispielhaft für die Cleverness, Aufwand vorzugaukeln, ist der geplante Berlinbesuch des britischen Königs: Die Vorkehrungen finden in Form von kurzen akustischen Nachrichtenschnipseln allein auf der Tonspur statt.
Was diesen Sonntagskrimi weit aus dem TV-Alltag herausragen lässt, ist der politische Hintergrund: Als sich der Westen im Oktober 2021 überstürzt aus Afghanistan zurückgezogen hat, blieben die einheimischen Ortskräfte, jene Menschen also, die sich, wie es im Bürokratendeutsch heißt, "zwischen 2013 und 2021 vor Ort für einen gesellschaftlichen Wandel eingesetzt haben und deswegen anschließend gefährdet waren", schutzlos zurück; mit vielen von ihnen haben die Taliban kurzen Prozess gemacht. Auf dieser Basis erzählt Autor Thomas André Szabó eine ungewöhnliche und ausgesprochen fesselnde Geschichte, die ganz klassisch mit einem Mord beginnt: Morgens um kurz nach sieben wird ein Mann vor dem Bahnhof Friedrichstraße von einem Scharfschützen erschossen. Jürgen Weghorst war ein typischer Karrierepolitiker, der über einen Skandal gestolpert ist: Er hatte für einen Lebensmittelkonzern aus seinem Wahlkreis einen lukrativen Deal mit der Bundeswehr eingefädelt und musste von seinen Ämtern zurücktreten. Zuletzt war er nur noch einfacher Abgeordneter und Berater des Lobby-Verbands der Lebensmittelwirtschaft. Es hieß, er plane mit Hilfe eines Journalisten, dem er eine brisante Story erzählen wollte, sein Comeback.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Während sich das Berliner LKA-Duo Karow und Bonard (Mark Waschke, Corinna Harfouch) noch fragt, ob irgendjemand den Politiker zum Schweigen bringen wollte, wird bereits das nächste Attentat vorbereitet. Erneut trifft es eine Person aus dem Umfeld der Lebensmittel-Lobby. Die Frau verblutet unter Karows Händen; das lässt selbst den hartgesottenen Hauptkommissar nicht kalt. Die Verbindung zwischen Weghorst und dem zweiten Opfer war ein gemeinsamer Afghanistan-Besuch in jenem Oktober 2021. Die beiden und zwei weitere Personen haben das letzte Flugzeug erwischt. Die Maschine war eigentlich für achtzig Ortskräfte vorgesehen, flog nun jedoch nur mit den vier Deutschen an Bord davon. Was das für die Einheimischen bedeutete, verdeutlicht Monheim mit Hilfe dokumentarischer Aufnahmen.
Zum Thriller wird "Vier Leben", weil offenbar jemand Rache nehmen und das Quartett der Reihe nach ermorden will. Hauptverdächtige ist zunächst die afghanische Juristin und Menschenrechtsaktivistin Soraya Barakzay (Pegah Ferydoni). In ihrer Heimat war sie Richterin. Sie hat Weghorst öffentlich beschuldigt, das Leben vieler ihrer Landsleute auf dem Gewissen zu haben, darunter auch ihre beiden Kinder; ein Video zeigt, wie sie ihm den Tod wünscht ("Mögest du für deine Sünden sterben"). Mit ihrer Verhaftung schlägt der Fall endgültig politische Wellen: Die einen wollen die Ermittlungen behindern, die anderen drohen dem Duo mit Anzeigen, und die Innensenatorin will wissen, ob der kurz drauf in der Tat abgesagte Staatsbesuch gefährdet ist. Ein Kollege vom BKA vermutet, die professionell vorbereiteten Attentate trügen die Handschrift von Geheimdiensten, und schließlich kommen sowohl die Bundespolizei mit ihrer Spezialtruppe GSG 9 wie auch das Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr ins Spiel.
Angesichts der komplexen Handlung und der enormen Stofffülle blieb Szabó nichts anderes übrig, als ganz viel Information in die Dialoge zu packen; irgendwie muss das ja alles erklärt werden, was Karow und Bonard in Erfahrung bringen. "Vier Leben" ist entsprechend anspruchsvoll und bedarf der vollen Konzentration. Gewissermaßen als Ausgleich gibt es diverse Actionszenen; für Augenfutter sorgen Schauplätze wie das Regierungsviertel, das Stadtschloss sowie Szenen auf dem Dach des Berliner Doms. Der Wettlauf mit der Zeit, um die zu erwartenden weiteren Morde zu verhindern, ist ohnehin enorm packend, zumal sich Karow dabei selbst in größte Gefahr begibt. Das Finale ist pures Hochspannungsfernsehen.