Wer Kazim Erdogans Büro betritt, bekommt erst einmal einen kräftigen türkischen Schwarztee. Zwei Stück Süßstoff fallen in das kleine Teeglas, den Löffel legt er auf der anatolischen Tischdecke ab. "Viele Männer fühlen sich gleich heimisch, wenn sie die türkische Teekanne sehen", sagt der Vorsitzende und Gründer des Berliner Vereins Aufbruch Neukölln. Eine gute Atmosphäre ist eines der wichtigsten Instrumente für Erdogans Arbeit, denn in seinen Interkulturellen Vätergruppen soll offen gesprochen werden. Von Erziehungsfragen bis hin zu Themen wie Gewalt und Ehre bringen die Männer mit Migrationshintergrund bei Erdogan alles auf den Tisch, was sie im Neuköllner Alltag bewegt.
Wichtigstes Thema: Kindererziehung
Nun sind die Vätergruppen als herausragendes Projekt im bundesweiten Wettbewerb "Ideen für die Bildungsrepublik" ausgezeichnet worden. Eine Jury der Initiative "Deutschland - Land der Ideen" wählte das Projekt als eines von 52 weiteren aus 1.000 Bewerbern in diesem Jahr aus. Der Preis wird heute in Neukölln verliehen.
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Angefangen hat alles vor sechs Jahren. In Erdogans erster Gruppe saßen nur zwei Männer. Nun sind es bis zu 130 Väter, von denen immer rund 30 an den Gesprächsrunden in mehreren Sprachen teilnehmen. Am stärksten sind Türken vertreten.
"Es wäre einfacher zu erzählen, worüber wir nicht sprechen", sagt der 60-Jährige und lacht. Eines der zentralsten Themen sei aber immer wieder die Erziehung der Kinder. "Die Scheidungsraten haben dramatisch zugenommen, Männer stehlen sich dann oft aus der Verantwortung", sagt Erdogan. "Wenn die Väter als positive Vorbilder praktisch nicht vorhanden sind, ist es wie Erziehung nur auf einem Bein", meint er. Die Männer müssten dafür sensibilisiert werden, dass sie zwar von ihren Frauen, aber nicht von den Kindern geschieden sind.
Raus aus der Sprachlosigkeit
Die Probleme lägen häufig auch in der in der kulturellen Prägung, fügt Erdogan hinzu. Viele würden sich bei einer Scheidung in ihrem Stolz verletzt fühlen - da spiele häufig der Begriff der Ehre eine Rolle. Er versuche gemeinsam mit den Männern zu ergründen, mit welchen Inhalten dieser Begriff überhaupt gefüllt ist. "Er ist meist nur auswendig gelernt", sagt Erdogan. "Es ist wie ein Gebet, das man auf Arabisch sprechen kann und nie richtig versteht."
Seinem Verein widmet Erdogan jede freie Minute. Jeder, der Probleme hat, kann zu ihm kommen. Und trotz einiger 20-Stunden-Tage bewahrt er sich seine ungezwungene Fröhlichkeit. Seit 40 Jahren hilft er den Menschen, schon nach seinem ersten Deutschkurs übersetzte er Briefe für die Gastarbeiter der ersten Generation. "Als ich selbst nach Deutschland kam, fühlte ich mich - trotz Abitur - hilflos wie ein kleines Kind", erzählt er. "Ich konnte mir nicht einmal selbst eine Fahrkarte nach Berlin kaufen." Nun freue er sich, jeden Tag sein Wissen weiterzugeben, an Menschen, die selbst - auf vielen Ebenen - "sprachlos" sind.
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Aus der Sprachlosigkeit geholt hat er auch Aydin Bilge, der nach Scheidung und Arbeitsplatzverlust nicht mehr weiter wusste. "Als ich das erste Mal zu ihm kam, hat er mit mir geredet, als würden wir uns Jahrzehnte kennen", sagt Bilge, der mittlerweile selbst als "Kiezvater" Vorbild und Ansprechpartner für Erziehungsfragen ist. In der Vätergruppe habe er sich Woche für Woche weiter öffnen können, erzählt Bilge. "Wir türkischen Männer mussten ja immer steinhart sein", sagt er: "Irgendwann konnte ich in der Gruppe endlich weinen."
Ein anderer Teilnehmer der Gesprächsrunde ist erst seit kurzem dabei. Auch er ist ein Vater, hat jedoch sein Kind schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Jahrelang war er abhängig von Cannabis. "Die Ärzte, das Krankenhaus, die Psychologen - alle haben Erdogans Gruppe empfohlen", sagt der 35-Jährige. "Hier ist es warm, es kommt vom Herzen", fügt er hinzu. Erdogan selbst bleibt trotz allen Lobes und der Auszeichnung bescheiden. "Ich backe kleine Brötchen", meint er. "Ich komme lieber nur einen Millimeter am Tag voran, als stehen zu bleiben."