Der Kehlkopf eines Menschen wiegt 150 bis 200 Gramm. Wenn dieses starke Viertelpfund Mensch fehlt, wird für den Betroffenen vieles anders. Der Wilnsdorfer Burkhard Schäfer muss ohne dieses Organ leben. Im vergangenen Herbst diagnostizierten die Ärzte bei ihm Kehlkopfkrebs. Der Kehlkopf des 59-Jährigen wurde operativ entfernt, und Schäfer war plötzlich kein ganz normaler Arbeitnehmer mit ganz normalen Hobbies mehr, sondern schwer behindert. Kurz darauf avancierte Schäfer zum Gründer und Motor des ersten und vermutlich einzigen Chors weltweit, der nur aus Kehlkopflosen besteht.
###mehr-info###
Das Viertelpfund Leben sorgt dafür, dass Menschen miteinander sprechen, in einem Umfang von etwa drei Oktaven singen und schwimmen können, ohne zu ertrinken. Ein Kehlkopf sorgt auch dafür, dass Rettungssanitäter oder Anästhesisten für den Fall einer Beatmung mit der Atemmaske helfen können. "Meine Nase ist eigentlich nur noch für die Schönheit", lacht Burkhard Schäfer, und wird dann wieder ernst.
"Die Aussicht, dass ich mal irgendwo nach einem Unfall bewusstlos und mit Atemproblemen auf der Straße liege und der Helfer nicht sieht, dass ich kehlkopfamputiert bin, macht mir jedenfalls gehörig Angst." Eine Mitsängerin, und das hat noch mehr zur Verunsicherung beigetragen, sollte sogar bei einer Knieoperation über die Nase beatmet werden. Zum Glück war sie noch wach und machte die Ärzte vorsichtig auf den Lapsus aufmerksam.
Jetzt will Burkhard Schäfer singen
Bei einer Kehlkopfamputation wird das Ende der Luftröhre an die Halshaut angenäht: Man ist jetzt Halsatmer. Der Mund wird zum Essen benutzt, die Nase ist für das Atmen ohne Funktion. Weil der Kehlkopf fehlt, ist die Verbindung zwischen Luft- und Speiseröhre weg. Und die Stimme fehlt zunächst, weil mit dem Kehlkopf auch die Stimmritzen entfernt wurden. Man behilft sich mit etwas Training und logopädischer Hilfe, um die so genannte Ösphagusstimme anwenden zu können.
Die funktioniert so: Die Luft im Mund wird in die Speiseröhre eingedrückt und mit Bauchanspannung wieder abgegeben. Für die Artikulation der Töne sorgt ein ringförmiger Muskel, der im oberen Teil der Speiseröhre sitzt. Eine zweite Möglichkeit ist das Shunt-Ventil, eine Ventil, das die Lungenluft zum Sprechen nutzt. Ein wenig umstritten ist die elektronische Sprechhilfe, die die Schallschwingungen von Mundboden oder Hals in akustische Signale umsetzt.
Und jetzt will Burkhard Schäfer singen. Im Chor. Die Idee kommt ihm bei einem Stimmbildungsseminar, das die Logopädin Nicole Hübenthal gestaltet. Die Ärzte sagten ihm, das mit dem Singen hielten sie für eine verrückte Idee. Das fand Schäfer gut, wie er überhaupt verrückte Ideen gut findet. Inzwischen hat er sich alles über Kehlkopfkrebs angelesen, was man sich als Laie anlesen kann, und er hat eine Selbsthilfegruppe in Siegen gefunden.
Seine erste Diagnose: Viele Betroffene ziehen sich in ihre eigenen vier Wände zurück und kapseln sich ab. "Viele haben auch noch nicht mal Geld für einen Computer, und immerhin ist das Internet ein guter Kommunikationskanal." Und ein Chor: Da gucken die Leute doch hin. Nun weiß Nicole Hübenthal, dass Burkhard Schäfer schon ein Sonderfall ist, weil er sich sehr schnell mit dem Leben ohne Kehlkopf arrangiert hat, und weil er auch sehr schnell wieder sprechen gelernt hat. Das dauere bei anderen Betroffenen sehr viel länger, und viele könnten es überhaupt nicht.
Ein Lied, zwei Minuten - und die Luft ist raus
Schäfer hat auch einen echten Kumpel, der mit ihm schon viele verrückte Dinge angestellt hat und auch bei Schäfers neuester Idee sofort mitzieht: Werner Maria Schneider ist Blues-Musiker bei der Siegener Band Falconz Blues Band. Er setzte sich hin und schrieb ein Lied speziell für die besonderen Anforderungen von kehlkopflosen Sängern. Begrenzter Tonumfang, eingeschränkte Atemluft, wenig Kondition. Nach einem Lied ist oft schon die Grenze erreicht: Die Luftröhre verschleimt, Singen ist dann nur noch schwer möglich.
###mehr-artikel###
Das schränkt den Komponisten ein, doch er liefert schnell. Das "Freundesliedchen" ist fertig. Und Schäfer findet Mitsänger, die sich als Chor mit dem gehörig selbstironischen Titel "Hohlkehlchen" schmücken.
Zehn sind es, die auf der Bühne im Siegener Kleinkunstzentrum Lyz stehen, sieben Männer und drei Frauen. Schneiders Band hat sich bis kurz vor der Pause erfolgreich alle Mühe gegeben, das Publikum in Schwung zu bringen.
Den "Rausschmeißer" vor der Pause singen die "Hohlkehlchen". Schneider kündigt den Chor an, ganz sachlich, und ebenso cool marschieren die Sänger auf die Bühne. Zwei Minuten später ist der Auftritt beendet, das Publikum ist begeistert und Schneider bittet zum Pausenpils. Die Hohlkehlchen haben ihren Auftritt so gelassen absolviert, dass eine Radioreporterin nach dem Auftritt nahezu verzweifelt einen Teilnehmer sucht, der ihr Nervosität oder gar Aufregung ins Mikrofon gesteht. Doch der Garderobe ist von Lampenfieber partout nichts zu spüren.
Die "Hohlkehlchen" wollen gern noch ein paar Auftritte hinlegen. Das eingenommene Geld könne man gut verwenden, um anderen Betroffenen Stimmbildungsseminare zu ermöglichen oder einen Computer mit Internet zu finanzieren. Damit könnten die Betroffenen wieder Anschluss an ihr normales Leben finden, hofft Schäfer. Und Aufregung dürfte mittelfristig vielleicht doch aufkommen, denn die Hohlkehlchen haben noch ein weiteres Ziel. "Wir sind schließlich nicht mehr krank, sondern behindert", stellt Ober-Hohlkehlchen Schäfer fest. "Und deshalb könnten wir 2016 bei den Paralympischen Spielen in Rio de Janeiro die Nationalhymne singen."