Blinde Bloggerin: "Reisen macht das Leben bunt"

Strand: In den Sand ist das Wort "Blog" geschrieben.
iStockphoto, Fatih Donmez
Blinde Bloggerin: "Reisen macht das Leben bunt"
Blogs gibt es wie Sand am Meer. Doch der von Ruth Wunsch ist ganz besonders: Die 81-Jährige erzählt darin von ihrem Alltag als Blinde – und von ihren unzähligen Reisen.
19.07.2012
evangelisch.de

China erkennt Ruth Wunsch sofort: Dort riecht es ekelhaft, sagt sie. Gesehen hat die kleine, stämmige Frau mit dem grauweißen kurzen Haar das Land noch nicht. Beeindruckt hat sie es dennoch, ebenso wie die Wüste in Dubai. Davon schwärmt sie noch heute: "Die Wüste ist wirklich faszinierend, vor allem diese bedrohliche Stille."

Ruth Wunsch ist 81 Jahre alt und blind. Trotzdem reist sie viel – nach China, ins australische Outback oder zum Nordkap. Fern gelegene Orte und Menschen ziehen sie an. Zwar kann sie den weiten Horizont über der Ostsee oder die bunte Blütenpracht auf den Seychellen nicht sehen, sie kann sie aber trotzdem genießen: Die Meeresbrise auf der Haut, das Rauschen der Wellen, den betörenden Duft exotischer Blumen.

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Und sie kann diesen Genuss wortreich beschreiben, in mehreren Büchern und seit drei Jahren auch in einem Blog: Auf www.blindgaengerin.de veröffentlicht sie Reiseberichte und Geschichten aus ihrem Alltag. Sie nennt sie "typische Blindengeschichten", es geht um nicht funktionierende Anrufbeantworter, Wahlschablonen für Blinde oder die Notwendigkeit, vor dem Fensterputzen alle Souvenirs vom Fensterbrett zu räumen. Schließlich müssen die Andenken hinterher in genau derselben Anordnung wieder hingestellt werden – das würde kein Fremder hinkriegen.

Brücken bauen mit der Braille-Maschine

Einen Teil ihrer Texte schreibt Ruth Wunsch in Blindenschrift mit ihrer alten Braille-Stenomaschine, den Rest diktiert sie ihrem Bekannten Matthias Brömmelhaus am Telefon. Brömmelhaus ist Co-Autor ihrer Reisebücher und kümmert sich um die technische Umsetzung des Blogs. Mit ihren Erzählungen möchte Ruth Wunsch den Sehenden einen Einblick in die Welt der Blinden geben. "Nur so können Barrieren abgebaut werden", erzählt sie.

Ruth Wunsch war nicht immer blind. Sie leidet an einer vererbten Netzhautdegeneration, seit ihrer Pubertät nimmt die Sehkraft schleichend ab. Vor mehr als fünfzehn Jahren erblindete die gelernte Sekretärin gänzlich. Mitleid wegen der Behinderung will Ruth Wunsch nicht. Dennoch ärgert sie ihre Blindheit. "Es fällt mir schwer, in Gespräche einzusteigen, weil ich keinen Blickkontakt aufbauen kann", erzählt sie. Am meisten bedrückt sie die Abhängigkeit von anderen Menschen. Zwar wohnt sie allein, doch bei vielem braucht sie Hilfe – vom Fensterputzen über das Einkaufen bis hin zum Lesen der Post. Einmal in der Woche unterstützen sie junge Menschen, die beim Blindenverein ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren.

Ruth Wunsch an der Ostsee. Foto: Philipp Weber

Halt und Trost findet Ruth Wunsch in ihrem Glauben. Sie geht oft in die Kirche, auch wenn sie mit ihrer Kirchengemeinde in Hamburg-Horn nicht immer glücklich ist. Denn alleine kann sie den kurzen Weg zur Kirche nicht gehen. Eine Frau hat sie einige Male mitgenommen, doch diese Hilfe ist schnell wieder eingeschlafen. Dann bot der Pastor an, sie abzuholen. Allerdings eine Stunde vor dem Gottesdienst – während seiner Vorbereitungen musste Wunsch in der Kirche herumsitzen und warten. "An solchen Sachen darf man nicht zerbrechen, sonst wird man traurig", erklärt sie.

Mittlerweile nutzt sie die "Wegelagerer-Methode": Sie stellt sich wie eine Tramperin auf den Fußweg und bittet fremde Passanten, sie die wenigen Meter zu begleiten. Bislang hat sie immer jemand zur Kirche geführt. In ihrem Blog beschreibt Wunsch hinterher begeistert, wie viel Spaß das Singen gemacht hat und welch bewegenden Worten sie gelauscht hat – oder sie äußert ihren Ärger über einen langweiligen Gottesdienst, wenn der Pastor nur "Dienst nach Vorschrift" macht.

Reiseberichte aus doppelter Perspektive

Ruth Wunschs Hamburger Wohnung ist ein kleines Museum. Auf der Wohnzimmercouch sitzt ihre Puppe "Pummelchen" aus Kindertagen zwischen geblümten Kissen, ein Mini-Bumerang erinnert an die Reise nach Australien, ein Osterhasenpärchen an eine verstorbene Freundin. Von der engen Küche geht es in das "Funkerzimmer". Dort gingen Wunsch und ihr ebenfalls blinder Mann früher begeistert ihrem Hobby nach: Über Funk unterhielten sie sich mit Menschen auf der ganzen Welt. Doch vor acht Jahren ist Wunschs Mann verstorben. Das Funkgerät sieht aus, als sei es seitdem nicht mehr berührt worden. Zielsicher geht die Pensionärin auf zwei alte Koffer zu und kramt eine Plastiktüte hervor. Darin liegt ihr nächstes Reisebuch über ihre Kreuzfahrt zum Nordkap. Einmal auf beigen, punktierten Rollen, von ihr getippt in Blindenschrift. Und einmal die übertragene, gedruckte Form.

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Ihr fast dreißig Jahre jüngerer Co-Autor Matthias Brömmelhaus half ihr bereits beim Verfassen ihrer Autobiografie: "Meine Sätze waren immer zu lang", sagt Wunsch, Brömmelhaus habe ihr erklärt, wie man prägnanter schreibt. Seitdem gehen die beiden gemeinsam auf Reisen und veröffentlichen in ihren Büchern eine doppelte Sicht auf ferne Länder: Brömmelhaus liefert meist die Hintergrundinformationen und beschreibt all das, was Wunsch nicht sehen kann. Ruth Wunsch schildert, was sie hört, riecht und fühlt: Den flauschigen Islandpullover, die kühlen Reliefs eines Taufbeckens, das Singen der Vögel.

In ihrem Blog schreibt Ruth Wunsch auch über slawische Musiker, schweigsame Fußballkommentatoren im Fernsehen oder ihre Erinnerungen an die Hamburger Sturmflut im Jahr 1962. Und immer wieder über ihren Alltag als Blinde. Der birgt oft skurrile Erlebnisse: Einmal führte sie eine flüchtige Bekannte nach Hause und ließ sie an der Haustür stehen. "Oben angekommen der erste Schock. Die Fußmatte vor der Wohnungstür war verschwunden. Und was war das? Ich hörte eindeutig Geräusche aus meiner Wohnung." Ruth Wunschs erste Befürchtung: Einbrecher. Als jedoch ihr Schlüssel nicht ins Schloss passte, wurde ihr klar: Die Bekannte hatte sie aus Versehen ins Nachbarhaus geführt.

Urlaub im Blindenhotel

"Reisen ist wunderbar. Reisen bildet. Reisen regt an. Reisen macht das Leben bunt. Reisen ist anstrengend." Auch solche Sätze liest man im Blog "Blindgängerin". Weil vor allem Fernreisen anstrengend sind, fährt Ruth Wunsch oft an die Ostsee. Im Aura-Blindenhotel am Timmendorfer Strand nimmt sie an Leseabenden und Musikseminaren teil oder denkt sich mit den anderen Hotelgästen Krimi-Hörspiele aus.

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Oder sie spaziert einfach nur am Strand entlang. Vor über 60 Jahren hat Ruth Wunsch hier ihren Mann kennengelernt. Damals, als sie als Jugendliche noch sehen konnte. Jetzt zischt der Wind an ihrer roten Windjacke vorbei. Hauchfeine Wassertropfen stechen wie kleine Nadelstiche in ihr Gesicht. Die Augen kann man bei dem Wind kaum öffnen. Ruth Wunsch lässt sie geschlossen.