Wo die EM-Gastgeber an ihre Grenzen stoßen

Jens Mattern
Oberleutnant Vitali Arnoldowitsch Hofnong auf der ukrainischen Seite der Grenze.
Wo die EM-Gastgeber an ihre Grenzen stoßen
In fünf Wochen beginnt die Fußball-Europameisterschaft. Die Gastgeber haben unterschiedliche Sorgen: Während die Ukraine wegen der Inhaftierung der kranken Ex-Ministerpräsidentin Timoschenko in der Kritik steht, bereitet sich Polen auf die Grenzkontrollen der Fans vor. Denn an der Grenze zwischen beiden Ländern endet der EU-Schengenraum. Beobachtungen am Übergang Medyka-Scheginy.

Den Blick nach Westen in die Abendsonne gerichtet, umgeben von fünf Meter hohen Zäunen, warten mehr als 300 Ukrainer auf der Fußgängertrasse vor dem neuen polnischen Zollgebäude. Sie sind in Gruppen zu etwa 70 Menschen geordnet, zwischen den Ansamlungen bestehen einige Meter Abstand. Die vordersten drücken an ein Eisengatter, es markiert die ukrainisch-polnische Grenze und trennt sie von einer Gruppe, die schon direkt vor der Drehtür des Zolls ansteht.

Jede Altersklasse ist vertreten, nur Kinder fehlen. "Manchmal warten wir über acht Stunden", sagt ein alter Mann mit schwarzer Schirmmütze, der sich neben seinem Gepäckkarren am Zaun niedergelassen hat. Doch sonst mag niemand weiter Auskunft geben. "Unsere Sache", Schweigen, böse Blicke und verlegenes Lächeln sind die Reaktionen auf Wieso-Weshalb-Warum.

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Auf der anderen Seite des Zollhauses sind die Silhouetten der Zurückkehrenden zu sehen, die ihre Gepäckwagen mit den in der Ukraine gefragten Textilartikeln oder Fleischwaren nach Hause karren. "Ameisen" nennt man sie hier abwertend. Nach einer Stunde sind die letzten Wartenden im Zollgebäude verschwunden, ein polnischer Grenzer öffnet lässig das Gatter und eine weitere Gruppe stürmt vor, wie beim Stierlauf in Pamplona, und quetscht sich vor den Eingang mit der Drehtür. Dahinter werden sie alle ihr Gepäck aufmachen müssen.

Deutsche Fußballfans müssen hier über die Grenze

"So sieht das jeden Tag aus" meint die Polin Ivonna, die sich als EU-Bürgerin bis zum Eisenzaun vordrängeln durfte. Mit dem Auto dauere es manchmal sogar noch länger. Auch in Zeitungsberichten ist von Wartezeiten zwischen zwei bis acht Stunden auf beiden Seiten der Grenze die Rede.

Hier, am Übergang Medyka-Scheginy, nur 60 Kilometer vom ukrainischen Austragungsort Lemberg (Lviv) entfernt, werden in den nächsten Wochen Fußballfans in unbekannter Anzahl die Grenze passieren - natürlich nicht zu Fuß, sondern per Bus und Auto. Drei Spiele der Vorrundengruppe B finden in Lviv statt, darunter die deutschen Partien gegen Portugal und Dänemark. Während der Finalspiele werden die Fans hier zwischen Polen und der Ukraine hin- und herwechseln.

Dabei wird ein Dilemma zu lösen sein – die Polen sind nach den Auflagen Brüssels seit 2007 gehalten, den Schengenraum nach Osten abzuschirmen, und nun soll die Grenze dem polnisch-ukrainischen Fußballfest kein Stein im Weg sein.

Havarie im Zentralcomputer

Die Szenerie wirkt unschön. Passiert man das Zollgebäude, so findet sich auf der polnischen Seite Unrat und Müll. Die Zeiten des großen Grenzhandels sind seit dem Beitritt Polens zum Schengenraum vorbei, die meisten Verkaufsbuden vor der Grenze geschlossen. Seitdem dürfen die anwohnenden Ukrainer allein eine Flasche Schnaps und zwei Packungen Zigaretten über die Grenze schaffen. Etwa 20 Händler, ausnahmslos ältere Menschen, stehen dennoch mit diesen Waren herum.

Eine Rentnerin mit Mohairmütze und Goldzähnen macht dies täglich: Umgerechnet ein bis zwei Euro kann sie so pro Tag verdienen. "Für meine Enkel in Lviv", sagt sie. Eine polnische Witwe ist nur an die Grenze gekommen, um einen Bekannten zu treffen - für sie lohnt sich nun der Handel nicht mehr – auch wenn sie umgerechnet nur 180 Euro Rente bekommt. Fußball ist für beide kein Thema.

Bei den Offiziellen des Grenzraums ist die Stimmung besser. "Wir sind vorberereitet", meint Major Robert Inglot, der stellvertretende Kommandant des polnischen Grenzschutzes bei einem Gespräch im neuerrichteten Grenzschutzgebäude. Die Menschenmassen vor der Fußgängerabfertigung wird er später per Mail mit einer Havarie im Grenzer-Zentralcomputer der Hauptstadt erklären.

Auch die EU-Grenzagentur Frontex ist im Einsatz

Inglot erklärt routiniert die Maßnahmen: geplant ist eine gemeinsame Kontrolle von Zoll und Grenzschutz beider Länder auf der polnischen Seite. Auf dem "grünen Korridor", einem separaten Streifen sollten die Fussballfans möglichst schnell abgefertigt werden.

Major Robert Inglot, der stellvertretende Kommandant in seinem Büro auf der polnischen Seite der Grenze. Foto: Jens Mattern

Sollten gewaltbereite Fans angesichts der Warterei die Nerven verlieren, würden diese sofort isoliert und gegebenenfalls verhaftet, auch dies trainiere man zusammen mit den ukrainischen Kräften. Der reibungslose Ablauf an der Landesgrenze, wo während der EM auch 130 Offiziere der EU-Grenzagentur Frontex im Einsatz sein werden, hat für die Regierung in Warschau hohe Priorität. Der Kommandant des Grenzabschnitts bei Medyka wurde kürzlich zum obersten Grenzbeamten des Landes befördert.

Doch viele Fragen bleiben offen. Woran die Fans zu erkennen sind, sei noch unklar. An der Eintrittskarte schon einmal nicht, schließlich fahren viele auch zum Public Viewing, wie Inglot selbst einräumt. Auch drohen neue Kontrollen. Denn die monopolistische UEFA befürchtet Raubkopien von Fanartikeln, worauf sie das Urheberrecht hat. Der polnische Zoll ist darum zur umfassenden Kontrolle angehalten.

"20 Sekunden pro Fußgänger und drei Minuten pro Auto"

Auf der ukrainischen Seite scheint die Zeit ein wenig stehen geblieben zu sein. Einige Grenzer in Tarnuniform fegen Unrat beiseite, der Seitenrand der Fußgängertrasse wird gerade mit weißer Farbe bestrichen. Die Zoll- und Grenzschutzgebäude sind kleiner als auf der Schengen-Seite und Oberleutnant Vitali Arnoldowitsch Hofnong trägt die großflächige Offiziersmütze, die an die Sowjetzeit erinnert.

"Es wird ausreichend Sanitäts- und Informationspunkte geben", sagt der Offizier, der im grün gestrichenen Grenzer-Aufenthaltsraum empfängt. Seit Anfang letzten Jahres übe man intensiv Englisch, zudem sorgten die Ukrainer am Übergang Medyka - Scheginy generell für eine flotte Abwicklung: "Etwa 20 Sekunden pro Fußgänger und zwei bis drei Minuten pro Auto", so Hofnong. Ein Seitenhieb Richtung polnische Kollegen.

Kein Geld, um Schlaglöcher zu reparieren

Ein riesiges Schild mit dem EM-Logo begrüßt den Besucher. Doch wer dort fotografiert, riskiert Ärger. Denn hier warten Männer in dunklen Jacken, die einen Transport über die Grenze anbieten. Auch von der Straßenbeschaffenheit erscheint das Land etwas weniger gastfreundlich – im ukrainischen Grenzdorf Scheginy und darüber hinaus ist die E 40, die nach Lviv führt, mit tiefen Schlaglöchern durchsetzt.

"Wir erhielten die Anweisung, dies zu ändern, doch kein Geld dafür", entschuldigt sich der freundliche Gemeindevorsteher Stepan Jurijowitsch Paraska, der ein wenig in seinem Ort herumführt. Nur die hellblaue orthodoxe Kirche erscheint, neben den kleinen Häusern mit der Kleinfelderwirtschaft, schmuck und wohlhabend. Mehr als die Hälfte der Bewohner hat keine Arbeit. Paraska, der auch die Dorfschule leitet, will dennoch auf die anstehende Europameisterschaft anstoßen. "Das wird ein großer Image-Gewinn für die Ukraine und kann vielleicht auch unsere Region beleben."