Am 5. Januar 2007 verändert ein Anruf das Leben des 42-jährigen Immobilienmaklers Antonio Barroso. Am Telefon ist Juan Luis Moreno, ein Freund aus Kindertagen. Er ruft aus dem Krankenhaus an, sein Vater liegt dort im Sterben. "Antonio", sagt Juan Luis und er spricht sehr ernst und sehr langsam, " ich muss dir etwas sagen. Du und ich, wir wurden von einer Nonne verkauft, unsere Eltern sind nicht unsere Eltern. Mein Vater hat es mir auf dem Totenbett gebeichtet, auch über dich und deine Adoptiveltern wusste er Bescheid."
Zweifel hatte Antonio schon früher. Er ist sechs, als ein Mitschüler ihm sagt, dass er nicht der richtige Sohn seiner Eltern sei. Antonio versteht sich gut mit Vater und Mutter, er hakt nicht nach. Er will sie nicht kränken, will nicht undankbar sein. Doch die Sticheleien in der Schule häufen sich. Vorsichtig fragt Antonio die Mutter, warum er im weit entfernten Zaragoza zur Welt gekommen ist, da die Eltern schon damals in Vilanova wohnten. Sie wehrt ab: Dort hätten sie die Ferien verbracht. Fragt er nach Fotos, die sie schwanger mit ihm zeigen, weicht sie aus, die habe sie verloren.
Erst mit 13 traut sich Antonio, direkt zu fragen: "Bin ich ein Adoptivkind?" Die Mutter weint und verneint. Doch Barrosos Zweifel wachsen und nagen an ihm. Er durchforstet das Familienbuch: Keine Adoption eingetragen. Als er volljährig ist, geht er zum Rathaus, lässt seine Geburtsurkunde überprüfen, und wieder fragt er: "Ist es möglich, dass ich ein Adoptivkind bin?" "Ausgeschlossen. Nein." Nun schiebt Barroso die Zweifel beiseite. Zwanzig Jahre vergehen. Dann kommt der Anruf von Juan Luis Moreno.
"Das Wichtigste ist, dass ich meine Wurzeln wieder finde"
"Das kann nicht sein, Luis", sagt Barroso ins Telefon. "Meine Eltern sind meine leiblichen Eltern." Aber das Misstrauen ist wieder da. Sein Vater hat inzwischen Krebs, die Mutter leidet an einer Lungenembolie. Er scheut die Konfrontation, bittet aber den Krankenpfleger, eine Speichelprobe von seiner Mutter zu nehmen. Sie ahnt nicht, warum.
Moreno am Fenster seiner Wohnung. Foto: Franziska Wegner
Barroso lässt einen DNA-Abgleich erstellen. Ergebnis: 0,00 Prozent Wahrscheinlichkeit einer Mutterschaft; Antonio und seine Mutter sind nicht miteinander verwandt, nicht einmal entfernt. "Plötzlich wird dir bewusst, dass alles eine große Lüge war. Die Papiere gefälscht. Die Menschen, von denen man dir von klein auf eingetrichtert hat, dass du ihnen vertrauen kannst, entpuppen sich als Lügner. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie durcheinander ich war", sagt Barroso. Seitdem fällt es ihm schwer, überhaupt noch jemandem zu vertrauen.
Antonio Barroso sitzt in seinem Büro in der Calle San Magi Nr 2 in Vilanova i la Geltru, einem Küstenort, 45 Kilometer südlich von Barcelona. Die Anzugjacke trägt er offen, im Hemd wölbt sich der Bauch, die Sonnenbrille steckt im vollen, leicht ergrauten Haar. 2010 hat er seinen Makler-Job aufgegeben und die "Associaci?n Nacional de Afectados por las Adopciones Irregulares" (ANADIR) gegründet, einen Verein für Opfer illegaler Adoptionen. Seitdem lebt Barroso von seinen Ersparnissen, staatliche Unterstützung erhält der Verein bisher nicht, nur hin und wieder eine Spende von Fernsehsendern. Das reiche nicht einmal, um die Telefonrechnungen zu bezahlen, sagt Barroso. Egal. "Das Wichtigste ist, dass ich meine Wurzeln wieder finde, woher ich komme, die Wahrheit."
Jede Spur der Lüge war verwischt
Inzwischen zählt ANADIR über 2000 Opfer von Zwangsadoptionen, und es werden stetig mehr. Täglich rufen neue Betroffene an, Dutzende E-Mails gehen ein. Vor Jahrzehnten geraubte Kinder auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern und beraubten Eltern auf der Suche nach ihren tot geglaubten Kindern. Barroso telefoniert ununterbrochen. All diese illegalen Adoptionen seien im Zeitraum zwischen den 1960er und 1990er Jahren erfolgt, sagt er. Inzwischen steht fest: In den Handel verwickelt waren Nonnen, Ärzte, Hebammen, Rechtsanwälte.
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Die meisten Fälle liefen nach einem immer gleichen Schema ab. Nach der Geburt im Krankenhaus sagte man der Mutter, ihr Kind sei tot. Zweifelte sie, hielt man bisweilen, wie im Krankenhaus San Ramón in Madrid, einen toten Säugling als "Beweisstück" im Kühlschrank bereit. Im Nebenzimmer wartete bereits die Adoptivmutter, im Glauben, die Adoption liefe im Einverständnis mit der leiblichen Mutter ab. In die Geburtsurkunde trug der Arzt die Adoptiveltern ein. Die stammten meist aus einer anderen Region Spaniens. Jede Spur der Lüge war so verwischt, jede Möglichkeit, das Kind einmal aufzuspüren, zunichte gemacht.
Das ultrakatholische Franco-Spanien begünstigte diesen Babyhandel. Der Markt war groß. Kinderreiche Familien waren angesehen, alleinstehende Mütter trugen ein gesellschaftliches Stigma. Erst mit 26 Jahren galt eine unverheiratete Frau damals als volljährig. Wer kein Kind bekommen konnte, dem machten es die laxen Adoptionsgesetze leicht: Das Ley de Parto An?nimo, das Gesetz zur anonymen Geburt, wurde in Spanien erst im Jahr 1997 geändert.
Ein Supermarkt für Neugeborene
Die Fälle ziehen sich durch das ganze Land. ANADIRs Anwälte schätzen die Zahl der geraubten Kinder auf 300.000. Die meisten illegalen Adoptionen, sagt Barroso, fanden in Madrid, im Baskenland, Katalonien und Andalusien statt. Sogar aus Mexiko, Peru und den USA rufen Menschen an, die an ihrer Herkunft zweifeln. Augenzeugen melden sich bei ihm, darunter ein Totengräber aus Andalusien, der bei der Exhumierung eines Kindergrabes nur Decken vorfand.
Und eine Nonne, die bei illegalen Adoptionen dabei war und danach beschloss, nicht mehr Nonne zu sein. Die höchste ANADIR bekannte Summe, die für einen Säugling gezahlt wurde, betrug drei Millionen Peseten, rund 18.000 Euro, ein reicher Spanier zahlte sie an einen Mittelsmann. "Jedes Krankenhaus hatte sein eigenes Täternetz", sagt Barroso, "Spanien war ein Supermarkt für Neugeborene."
Fünf Anwälte kämpfen bei ANADIR gegen eine Mauer des Schweigens an. Gegen das Schweigen der Adoptiveltern, das Schweigen der Täter, die verschlossenen Archive der Krankenhäuser und religiösen Wohnheime, in denen die alleinstehenden Frauen unterkamen und gegen Staatsanwälte, die die Fälle wegen Verjährung niederlegen. 2011 reichte ANADIR eine Sammelklage von 262 Fällen bei der Oberstaatsanwaltschaft in Madrid ein. "Mehr als 100 Medienvertreter aus Spanien und dem Ausland berichteten vor Ort," erzählt Barroso stolz. Die damalige Regierung versprach, den Betroffenen gratis DNA-Proben abzunehmen und einen Beamten des Justizministeriums als Vermittler zu stellen, um die Aufklärung zu beschleunigen. Bisher wurde keines der Versprechen eingelöst. Kürzlich verhandelte Barroso mit der neuen konservativen Regierung und kehrte mit wieder neuen Versprechungen heim.
Erst bei der Klage sah seine Mutter ihn im Fernsehen
"Ohne die Medien wäre das Thema in Spanien längst vergessen", sagt er. Besonders die ausländische Presse mache Druck auf die spanische Regierung. Die BBC und das ZDF kamen zu ihm nach Vilanova. Unermüdlich gibt er Interviews, erzählt seine Geschichte, beantwortet geduldig die immer gleichen Fragen. Barroso weiß, sein Reden hilft: Sechs Kinder, inzwischen alle erwachsen, fanden zu den leiblichen Eltern zurück. Und seit April 2012 steht zum ersten Mal eine der Nonnen wegen Kindesentführung in Madrid vor Gericht: die 87-jährige Maria Gómez Valbuena.
Antonio Barroso redet nach seinem Vortrag mit Zuhörern. ?Diese kleinen Veranstaltungen seien enorm wichtig, sagt er, ?um die Menschen aufzuklären und für das Thema zu sensibilisieren. Foto: Franziska Wegner
Barrosos Adoptivvater starb vor vier Jahren, die Adoptivmutter im Frühjahr 2011. Er pflegte beide Eltern bis zu ihrem Tod, den DNA-Test und seinen Verein ANADIR verschwieg er ihnen. "Sie waren krank und alt, ich wollte sie verschonen." Wenn er Fernsehinterviews gab, ließ er einen Bekannten bei der Mutter zurück und bat ihn, den Apparat auf ein anderes Programm zu schalten. Das ging gut – bis zur Sammelklage am 27. Januar 2011. An jenem Tag war Antonio Barroso auf allen Kanälen zu sehen. "Meiner Mutter gefiel gar nicht, was sie da sah", sagt er. Aber sie rückte mit dem Namen der Nonne heraus, jener Ordensschwester, die ihn und Moreno als Babys verkauft hatte. "Schwester Vivas", sagt Barroso, holt tief Luft und spricht langsam ihren vollen Namen aus: "Asunción Vivas Jurens".
Ihren Wohnort in Zaragoza fand er durch einen befreundeten Journalisten heraus. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Calle Calatorao. Barroso forschte im Grundbuch der Stadt nach, die Ordensschwester besaß sieben Immobilien. Zusammen mit dem Journalisten, der ihren Besuch angekündigt hatte, und seinem Freund Juan Luis Moreno fuhr Barroso zu ihr. Moreno trug am Körper eine versteckte Kamera, das Mikrofon hatte er sich von innen an den Hosenschlitz gesteckt, da würde die Nonne nicht hinschauen.
Besuch bei der Nonne: "Die Frau widerte mich nur an"
"Sie war über 80, sehr dick und hatte eine heisere Stimme, die böse klang", sagt Barroso. Die Nonne gab zu, Geld von seiner Adoptivmutter erhalten zu haben, doch sie bestritt eine illegale Adoption. Er zeigte ihr die Geburtsurkunde und fragte: "Steht hier irgendetwas von einer Adoption?" Schwester Vivas schwieg. Kein Wort über seine leiblichen Eltern. Barroso lacht verächtlich. "Die Frau widerte mich nur an."
Die Aufnahmen der geheimen Kamera halfen Barroso und Moreno nicht weiter. Zweimal klagten sie die Nonne wegen Kindesentführung und Dokumentenfälschung bei der Staatsanwaltschaft in Zaragoza an. Zweimal legte der Staatsanwalt ihren Fall wegen Verjährung nieder. "Und das, obwohl der Beschluss der Generalstaatsanwaltschaft in Madrid ausdrücklich besagt, dass der Tatbestand der Entführung nicht verjährt", schimpft Barroso. "Das ist spanische Justiz."
Juan Luis Moreno ist schlank, hochgewachsen, das Jeanshemd hängt leger aus der Hose, um den Hals trägt er ein Lederband mit Ying-Yang Amulett. Seine Adoptiveltern waren viel kleiner als er, der Vater dunkelhäutig wie ein Dominikaner, aber niemals hatte er daran gezweifelt, dass sie seine biologischen Eltern waren. "Mein Vater war für mich ein Gott", sagt Moreno. Seit er die Wahrheit weiß, besucht er regelmäßig einen Psychologen, bewahrt sein inneres Gleichgewicht durch Kampfsport und Barfuß-Joggen am Strand.
Was hatten die Zwangsadoptionen mit Franco zu tun?
Von seiner Frau ließ er sich nach zwölf Jahren Ehe scheiden. "Sie wollte nicht, dass ich in der Vergangenheit wühle." Mit der Adoptivmutter kann er nicht reden, sie leidet an Alzheimer und lebt im Heim. Moreno ist zornig und er spricht zornige Sätze: "Wenn ich einen Geistlichen sehe, könnte ich ihn erwürgen. Das waren keine Einzeltäter, die gesamte Kirche ist schuldig als Institution." Barroso zieht die buschigen Augenbrauen zusammen und wirft dem Freund einen mahnenden Blick zu. Er hat gelernt, wann es besser ist zu schweigen. Sieht er, Barroso, eine Beziehung zwischen dem Franco-Regime und den illegalen Adoptionen? Er blockt ab. "Die illegalen Adoptionen haben nichts mit Franco zu tun", sagt er. "Sie waren ein reines Geldgeschäft, ohne politisches Motiv."
Da ist die katalanische Journalistin Montserrat Armengou anderer Meinung. Sie sitzt mit ihrem Kollegen Ricard Belis im Gebäude des katalanischen Fernsehsenders TV3. Gemeinsam mit ihm hatte sie, bevor sie über die illegalen Adoptionen berichtete, einen früheren Kinderraubskandal in Spanien aufgedeckt:
In den 1930er, 1940er Jahren wurden den republikanischen Frauen in den Franco-Gefängnissen die Kinder genommen und in regimetreue Familien gegeben, um aus ihnen Faschisten zu machen. Das Motiv habe sich in den 1960er, 1970 er Jahren geändert. Aus der politischen Repression sei eine moralische geworden. Die Strukturen aber, davon sind Armengou und Belis überzeugt, blieben dieselben. "Die Täter waren allesamt sehr gut mit den Mächtigen aus der Franco-Diktatur vernetzt, mit der Kirche, dem Militär, dem Opus Dei. Sie wussten um ihre Immunität und Straffreiheit, sie wussten, dass ihnen nichts passieren wird. In den 1980er und 1990er Jahren entwickelte sich aus diesem faschistisch-ultrakatholischen Schema ein lukrativer Menschenhandel."
Wütende, fassungslose Ausrufe und viele Seufzer
Opfervereine wie ANADIR würden die Suche nach den Eltern in den Mittelpunkt stellen und nicht den politischen Kontext analysieren, sagt Armengou. "Das ist nur verständlich. Denn wenn ein Verein sich zu sehr mit dem Francismo beschäftigt, stellt die konservative Regierung jegliche Zusammenarbeit ein. Spaniens derzeitige Führung hat nie mit der Vergangenheit gebrochen." Was die Aufarbeitung der eigenen Geschichte angehe, schneide das Land nicht nur schlechter als Argentinien oder Chile ab, sagt Armengou, sondern schlimmer als Kongo, Ruanda, Bosnien oder Guatemala. Belis, ihr Kollege nickt zustimmend. Er sagt: "Spanien ist eine falsche Demokratie mit den Füßen im Schlamm."
Antonio Barroso sitzt im Auto, er ist auf dem Weg zu einem Vortrag in der katalanischen Kleinstadt Matar?. Ein Handy hält er in der rechten Hand, das andere rutscht über das Armaturenbrett. Mehr als eine Stunde dauert die Fahrt auf der Serpentinenstraße. Im Café "La Peixateria" haben sich einige Dutzend Menschen versammelt, die meisten von ihnen ältere Frauen. Die Türen sind weit geöffnet, Passanten kommen herein. Draußen klettern Kinder in den Bäumen. Antonio greift zum Mikrofon. Der junge Kellner schaltet die lärmende Espressomaschine aus. Barroso blickt in die Runde und erzählt seine Geschichte, als erzähle er sie an diesem Abend zum ersten Mal. Wütende, fassungslose Ausrufe und viele Seufzer begleiten seine Rede.
Eine ältere Dame kommt auf ihn zu, sie trägt eine Mappe mit Dokumenten. "Im Krankenhaus haben sie mir gesagt, mein Kind sei tot. Sie haben mir Schlafmittel gegeben. Als ich aufwachte, waren meine Brüste abgeschnürt, damit ich keine Milch geben kann." Nie habe sie ihr Kind gesehen. Barroso hört ihr zu. Sie zieht ein Dokument aus der Mappe, ein Genehmigungsschreiben zur Exhumierung. Vielleicht ist das Grab ihres Kindes leer. Vielleicht liegt ein anderes darin. Sie will die Wahrheit wissen und einen DNA-Abgleich. Barroso ist an diesem Abend glücklich. "Diese kleinen Veranstaltungen sind enorm wichtig", sagt er, um die Menschen aufzuklären und für das Thema zu sensibilisieren." Wie lange will, wie lange kann er noch kämpfen? "Bis ich weiß, woher ich komme", sagt er.