Ihre Wohnungstür erreichen sie nach 211 Stufen. Marit und Matthias Melzer schaffen den Aufstieg - sportlich wie sie sind - in etwa drei Minuten. Täglich mehrfach absolviert das Türmerehepaar die Strecke. Seit 26 Jahren leben die gebürtigen Erzgebirger im achteckigen Turm der St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz, in 42 Metern Höhe, direkt über der Glockenstube.
Der Landschaftsgärtner Matthias Melzer hat sich damit einen Kindheitstraum erfüllt. "Schon als kleines Kind habe ich mich für Glocken und Türme interessiert", sagt er. Heute bedienen er und seine Frau, beide sind 55 Jahre alt, ehrenamtlich das Geläut. Zusammen mit anderen Begeisterten absolvieren sie dies auch gern per Muskelkraft mithilfe von Seilen.
Die Melzers sind offiziell europaweit die einzigen Menschen, die das gesamte Jahr in einem Kirchturm wohnen und regelmäßig Dienst übernehmen - vermutlich sogar weltweit, sagen sie. Vor dem Läuten müssen sie in der Glockenstube die großen Türen öffnen, damit der Schall nach draußen dringen kann. Vier Schalltüren sind es, in jeder Himmelsrichtung eine. Die Glocken können auch per Knopfdruck bedient werden - insgesamt sind es fünf in St. Annen, die drei großen stehen in der Glockenstube.
"Schöner klingt das Läuten aber per Hand", ist Matthias Melzer überzeugt. Für ein dreistimmiges Geläut werden dann allerdings mindestens fünf Menschen gebraucht. Zu besonderen Höhepunkten wie Ostern, Weihnachten oder Silvester läutet das jeweilige Team sogar eine Stunde lang. Wer, wann, wo zu ziehen hat, beschreibt ein Läuteplan. Zwölf Jahre alt musste Matthias Melzer werden, bevor er erstmals den Annaberger Turm besteigen durfte. Damals habe er der amtierenden Türmerfrau gesagt: "Ich werd' mal ihr Nachfolger!" Alle hätten gelacht. Aber er habe es schon damals ernst gemeint.
Wie groß der Wunsch war, das erkannte auch seine spätere Ehefrau Marit. Schon kurz nachdem sie Matthias kennengelernt hatte, sagten ihr Freunde: "Das ist der, der auf den Kirchturm ziehen will." Marit Melzer erinnert sich noch genau an ihren ersten Besuch im steinernen Glockenturm: "Ich fand das ganz furchtbar, viel zu viele Stufen, der Turm finster, da war nichts außer Stufen." Niemals würde sie dort einziehen, habe sie zu Matthias gesagt. Danach war die Sache erst einmal vom Tisch. Turm und Läuten blieben zunächst nur ein Hobby.
400 Mal im Jahr läuten die Melzers die Glocken
Doch als das amtierende Türmerpaar starb, suchte die Kirchgemeinde eine Nachfolge-Familie. Melzer schrieb schließlich nach Rücksprache mit seiner Ehefrau Ende 1997 eine Bewerbung und wurde sofort angenommen. 1998 begann der Umbau der 80-Quadratmeter-Türmerwohnung. Schließlich zogen die Melzers 1999 mit ihrem nur wenige Wochen alten Sohn ein - bei Schneesturm im Februar. Sie sind die offiziell 20. Türmerfamilie der 1525 fertiggestellten St. Annenkirche, die in diesem Jahr ihr 500-jähriges Bestehen feiert.
Etwa 400 Mal im Jahr läuten Marit und Matthias Melzer die Glocken - zu Gottesdiensten und Konzerten, Hochzeiten und bei Todesfällen. Die Türmerfrau betreut zudem seit vielen Jahren die Gäste, die zur Turmbesichtigung kommen. "Die evangelische Kirchgemeinde Annaberg ist stolz, eine solche Türmerfamilie zu haben", sagt Pfarrer Thomas Knittel. Sie wohne nicht nur ganzjährig auf dem Turm, sondern sorge auch dafür, dass die Glocken zur rechten Zeit läuten. "Die Melzers geben dem Kirchturm eine Seele", sagt Knittel.
In den Unterlagen sind von 1578 an Türmerfamilien nachgewiesen. Doch die Melzers gehen davon aus, dass der 78 Meter hohe Turm schon zuvor bewohnt war. Denn der achteckige Aufbau sei bereits 1533 fertiggestellt worden und es gebe Hinweise, die ihre These vom damals schon bewohnten Turm stützen.
Bereut haben die Melzers ihre Entscheidung für die Höhe nicht.
Die vielen Stufen sind längst Alltag und kein Grund zum Jammern. Die Türmerfrau sieht eher den Vorteil: "Wir haben unser Fitnessprogramm so ganz nebenbei." Von ihrer Wohnung aus bietet sich rundum ein einmaliger Blick übers Erzgebirge. Einen Fahrstuhl im Turm gibt es bis heute nicht. Für schweres Gepäck und Getränke nutzt die Familie eine 1955 eingebaute Seilwinde. Den Pizzadienst haben sie aber noch nie bestellt, scherzt das Paar. Es sei fraglich, ob das Essen jemals in der Türmerwohnung ankommen würde.