Ergibt sich was Besseres, ist man einfach weg

Ergibt sich was Besseres, ist man einfach weg
Auch im Arbeitsleben greift das Phänomen Ghosting um sich
Schon immer gab es Menschen, die völlig aus dem Leben anderer verschwanden. Heute heißt das Ghosting. An Dimension hat das Phänomen zugenommen, nicht nur in Beziehungen. Auch in der Arbeitswelt, im Gesundheitswesen und an Schulen greift es um sich.

München. (epd). Geht es darum, jemanden kennenzulernen, ist das echte Leben inzwischen fast zum Nebenschauplatz geworden: Wer Kontakt knüpfen möchte, begibt sich ins Internet. Das tat auch Sandra (Name geändert), Patientin der Münchner Paartherapeutin Sharon Brehm. Die 25-Jährige wurde auch rasch fündig: „Nach nur wenigen Malen des Kontakts hatte sie ihre neue Onlinebeziehung schon als tief und intensiv empfunden“, berichtet Brehm. Dann sei von jetzt auf nachher keine Antwort mehr gekommen: „Das erlebte sie wie einen Aufprall von Wolke sieben auf die Erde.“

Völlig unerwartet verschwindet ein anderer Mensch. Zum Teil gibt es überhaupt keine Möglichkeit mehr, ihn zu erreichen. Die Handynummer wurde nie weitergegeben. Das Profil im Netz wird gelöscht. Wie ein Geist löst sich der andere auf. Daher heißt dieses Phänomen „Ghosting“. In privaten Beziehungen ist es schon länger bekannt.

Auch in der Arbeitswelt scheint Ghosting zuzunehmen. Davon erzählt die Psychologin Ulrike Witt. Gefördert werde Ghosting in der Arbeitswelt durch den Mangel an Personal, erklärt sie. In bestimmten Branchen, etwa im Einzelhandel oder in der Gastronomie, haben Interessenten eine große Auswahl an Arbeitgebern. Sie bewürben sich darum meist auf mehrere Stellen. Sagen vielleicht mehrfach zum Bewerbungsgespräch zu. Kommen dann aber nicht, und zwar ohne sich abzumelden. In diesem Ausmaß, sagt Witt, habe es das früher nicht gegeben: „Da sagte man ab.“

Witt ging in einer im Januar veröffentlichten Einzelhandelsstudie auf Ghosting ein. Weil die Problematik wächst, fand sie heraus, haben immer mehr Arbeitgeber so genannte Preboarding-Konzepte. Das bedeutet: Sobald jemand den Arbeitsvertrag unterschrieben hat, wird er ins Unternehmen eingebunden. Teilweise deutlich vor dem ersten Arbeitstag. Die neuen Mitarbeiter lernen schon mal das Unternehmen und ihre künftigen Kollegen kennen. Viel wird getan, damit sie tatsächlich zum ersten Arbeitstag erscheinen.

Man könne den Ghostern nicht böse Absicht unterstellen, so die Forscherin. Häufig scheint es reine Gedankenlosigkeit zu sein: Ergibt sich etwas Besseres, ist man einfach weg. Dennoch: Dass schlichte Höflichkeitsformen verschwinden, die früher gang und gäbe waren, sei keine gute Entwicklung.

Auch im Gesundheitswesen tritt Ghosting auf. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung und Professor für Neurologie an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Nürnberg, erlebt das mitunter in seiner Spezialsprechstunde. „Diejenigen, die am meisten Tamtam um einen Termin machen, die sofort kommen wollen, sind die, die dann einfach nicht auftauchen“, berichtet er. Weil Ghosting zunehme, ließen sich immer mehr Ärzte bei der Terminvergabe die Adresse des Patienten geben. Tauche jemand nicht auf, werde eine Rechnung geschickt.

Harald Ebert, Leiter der Don-Bosco-Förderberufsschule in Würzburg, erlebt ebenfalls Ghosting, und zwar eng verknüpft mit der Problematik der Schulvermeidung. Schülerinnen und Schüler, so Eberts Überzeugung, möchten, dass ihre Abwesenheit wahrgenommen wird. „Werden junge Menschen an Schultagen vermisst, versuchen wir deshalb, telefonisch Kontakt aufzunehmen oder fragen im Freundeskreis oder in der Klasse vorsichtig nach“, erklärt er.

Durch die Sozialarbeiter der Schule, die den ghostenden Schüler kontaktieren, werde das plötzliche Verschwinden meist erklärbar, sagt der Pädagoge: „Wir hören von psychischen Belastungen, Beziehungskrisen, Mobbing, Schwangerschaften oder sexuellem Missbrauch.“ Für Ebert kann Ghosting zum Teil als selbstverletzendes Verhalten interpretiert werden: „Die kleine Schwester des Abbrechens von Beziehungen heißt Einsamkeit.“