Das ist zwar nett formuliert, aber zumindest mit Blick auf den ersten "Alpentod"-Krimi reichlich übertrieben. Dass die Berge nur von Ferne vorkommen, ist dabei das deutlich kleinere Problem: Richtig spannend wird "Alte Wunden" allenfalls am Schluss, als aus dem Trio ein Duo zu werden droht. Die personelle Konstellation ist immerhin reizvoll, zumal RTL mit Veronica Ferres so etwas wie einen Topstar aufbieten konnte. Überschwänglich versichert die Schauspielerin im RTL-Interview: "Tolle Produktionsfirma", "toller Sendeplatz – dort eine Reihe zu haben, ist einfach toll." Fehlt nur noch ein toller Film mit tollem Drehbuch, tollen Figuren, tollen Mitwirkenden und tollen Schauplätzen, aber diese Hoffnung erfüllt der Krimi nur bedingt.
Die Handlung beginnt mit einer Entführung: Bei Nacht und Nebel taucht eine bedrohliche Gestalt beim bayerischen Kinderheim Edelshof auf. Eine Betreuerin sieht den Mann und will zu Hilfe eilen; dann fällt ein Schuss. Später erfährt der junge Kommissar Jonas Becker (Tim Oliver Schultz) von einem Zögling, dass der elfjährige Leon nicht das erste verschwundene Kind sei. Der zunächst verschlossene Junge gibt sich unerschrocken, aber vor dem "Kapuzenmann" hat er Angst.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dass Becker trotzdem sein Vertrauen gewinnt, hat einen einfachen Grund: Er ist selbst in dem Heim aufgewachsen und hält große Stücke auf den Leiter, der dem kleinen Jonas lange ein Ersatzvater war. Gespielt wird der Mann allerdings von Harald Krassnitzer. Wenn der Österreicher außerhalb des "Tatorts" aus Wien in einem Krimi mitwirkt, darf er getrost zum Kreis der Verdächtigen gezählt werden. Prompt erklärt "Heimpapa" Bischoff die Erzählung von den vermissten Kindern zur "Fantasiegeschichte".
Einen Fall gab es allerdings in der Tat, er liegt bereits einige Jahre zurück. Seither ist die damals sechsjährige Jennifer wie vom Erdboden verschluckt, eine Formulierung, die in solchen Fällen stets das Schlimmste ahnen lässt. Damals hat die ermittelnde Kommissarin der Mutter des Mädchens versprochen, sie werde das Kind finden, und dass ihr das nicht gelungen ist, hat sie komplett aus der Bahn geworfen. Mittlerweile arbeitet Birgit Reincke (Ferres) im Polizeiarchiv; ähnlich wie der "Cold Case" Jennifer ist auch sie eine Art "Altfall".
Wie es Becker gelingt, die Kollegin erst aus der Reserve und dann aus dem Archiv zu locken, ist hübsch ausgedacht und eingefädelt (Buch: Stefan Rogall). Anschließend macht Reincke aus dem Duo ein Trio und sorgt so für eine weitere Interessante "Alpentod"-Personalie: Marie Sonnleitner (Salka Weber) ist forensische Archäologin und bereichert die vielen kriminaltechnischen und rechtsmedizinischen Spielarten des Krimiwesens um eine faszinierende Facette.
Die junge Professorin von der Uni Salzburg ist in der Lage, selbst Jahre nach einem Verbrechen Hinweise zu entdecken. Ihr erster Fund ist allerdings erst nicht sehr alt: Gemeinsam mit einigen Studierenden entdeckt sie die Leiche der Betreuerin. Später wird sie sich wundern, warum mitten im Wald Kirschlorbeer wächst, der im Alpenvorland eigentlich nichts zu suchen hat. Marie hat einen Freund, aber der lebt in Wien, weshalb es zwischen ihr und Jonas ein bisschen knistern darf, zumal sich die beiden vergleichsweise jugendlichen Mitglieder des Trios auf Anhieb gut verstehen.
Dass RTL die drei als "Underdogs" bezeichnet, ist allerdings kompletter Unfug und gilt spätestens seit ihrem Erwachen aus dem Dornröschenschlaf nicht mal für die Kommissarin. Die Geschichte ist ohnehin interessant, auch wenn der Film erst mal einen langen Umweg nimmt, weil sich ein auf die schiefe Bahn geratener früherer Heimbewohner schon allein durch seine Flucht verdächtig macht. Auch er bestätigt, dass es schon früher Vermisstenfälle gegeben habe, die Bischoff jedoch nie gemeldet hat.
Einige Darstellungen sind etwas unrund, und wenn die Mitwirkenden ausgiebig nach Spuren suchen, erinnert das eher an einen Waldspaziergang (Regie: Samira Radsi). Immerhin ist Jonas begeisterter Gravelbike-Fahrer (Geländerad mit Rennlenker) und braust entsprechend viel durch die Gegend, was für allerlei Dynamik sorgt. Die Bildgestaltung (Philipp Sichler) ist ohnehin sehr gut; natürlich kommt auch die Landschaft nicht zu kurz. Zurzeit der Dreharbeiten trug "Alpentod" noch den Titelzusatz "Bayern-Krimi", aber das hätte an arglistige Täuschung gegrenzt: Der Film spielt zwar in der Tat im bayerischen Grenzgebiet, ist aber im Salzburgerland entstanden.