Kurz vor der Bundestagswahl haben sich die Spitzen der evangelischen Kirche und ihres Wohlfahrtsverbands Diakonie besorgt über die Polarisierung in politischen Debatten geäußert. "Die meisten Menschen in unserem Land spüren eine Spaltung", sagt die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kirsten Fehrs, am Donnerstag bei der Vorstellung entsprechender Ergebnisse einer Umfrage im Auftrag der EKD und einer bewusst vor der Wahl gestarteten Kampagne für mehr Verständigung.
"Wir brauchen weniger Konfliktarenen als mehr Verständigungsorte", sagt auch Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch. EKD, Diakonie und deren Zukunftswerkstatt "midi" präsentierten Ergebnisse einer Forsa-Umfrage, für die im vergangenen Dezember 2.000 repräsentativ ausgewählte Menschen ab 18 Jahren online befragt wurden. Demnach nimmt die überwiegende Mehrheit der Menschen in Deutschland Spaltung wahr (82 Prozent), hat Angst vor zunehmendem Hass (89 Prozent) und gesellschaftlichen Konflikten (86 Prozent).
Der Studie zufolge zeigt die erregte gesellschaftliche Debatte auch Auswirkungen: 51 Prozent der Menschen sind der Meinung, sie könnten ihre Meinung nicht frei äußern, ohne Ärger zu bekommen. Fast jeder Dritte (32) gab in der Umfrage an, sich wegen strittiger Themen von anderen distanziert oder sogar den Kontakt abgebrochen zu haben. Der "midi"-Referent Daniel Hörsch erläutert, die persönliche Lebenswelt sei dabei zunehmend von der gesellschaftlichen Stimmung entkoppelt. 78 Prozent der Befragten gaben an, mit ihrem Leben zufrieden oder sogar sehr zufrieden zu sein. 70 Prozent der Menschen sind auch mit ihrer finanziellen Situation zufrieden.
Die Menschen blicken der Studie zufolge aber pessimistisch nach vorn. 52 Prozent schauen sorgenvoll in die persönliche Zukunft, 85 Prozent auf die gesellschaftliche Zukunft. Zudem glauben der Umfrage zufolge nur 7 Prozent der Menschen in Deutschland, dass es der jüngeren Generation einmal besser gehen wird. Die Studienautoren bezeichnen dies als "Ja, aber"-Modus der Gesellschaft.
Kirche und Diakonie wollen daran anknüpfen und ihre Infrastruktur als "Verständigungsort" anbieten. Gerade jetzt würden funktionierende Orte gebraucht, in denen sich Menschen mit verschiedenen Meinungen begegnen, sagt die EKD-Ratsvorsitzende Fehrs. Diakonie-Präsident Schuch sagt, man wolle damit einen Beitrag für die lebendige Demokratie leisten. Die Menschen erlebten einen hohen Veränderungsdruck, bei dem die sozial-ökologische Transformation und der digitale Wandel nur zwei Themen seien. Es gehe um den Umgang mit einem "erlebten Dauerkrisenmodus".
Innerhalb der Kampagne "Verständigungsorte" bieten Kirchengemeinden, evangelische Akademien und andere Einrichtungen Formate für den Dialog über konträre Meinungen an. Auf der Internetseite www.verständigungsorte.de soll nach und nach auf einer Karte sichtbar werden, welche Angebote es gibt. Flankiert wird die Kampagne "midi" zufolge mit sechs größeren Dialogforen. Das erste wird am kommenden Montag in Hanau stattfinden, an dem auch Fehrs teilnimmt. Thema sind die Konsequenzen des rassistischen Anschlags vor fünf Jahren. In weiteren Dialogforen im Verlauf des Jahres soll es unter anderem um die Themen Migration, Krieg und Frieden sowie Corona gehen.