Frankfurt a.M. (epd). Bürgerinnen und Bürger in Demokratien weltweit fordern der Frankfurter Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel zufolge politische Reformen. In Deutschland sage die Hälfte von Befragten, das politische System müsse grundlegend oder in großen Teilen reformiert werden, sagte die Leiterin der Forschungsstelle Demokratische Innovationen am Mittwoch auf der Konferenz „Demokratischer Zusammenhalt“. Deutschland befinde sich damit international im mittleren Maß. Die Konferenz wurde im Auftrag des hessischen Wissenschaftsministeriums veranstaltet vom Peace Research Institute Frankfurt (PRIF) und dem Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt an der Goethe-Universität.
Als konkrete Reformvorschläge nannte Geißel unter anderem Bürgerräte, Bürgerhaushalte, digitale Beteiligungsmöglichkeiten, ein geändertes Wahlrecht und Volksentscheide. Die Bürger seien der Souverän, nicht Politiker oder Wissenschaftler, betonte die Wissenschaftlerin. Eine durch Bürger fortwährend reformierte Demokratie sei stabiler gegen populistische Behauptungen. „Wir brauchen eine gesellschaftliche Mitte, um eine wehrhafte Demokratie zu gestalten“, sagte der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick. Doch die gesellschaftliche Mitte sei zerbrechlicher geworden und schrumpfe. Die Mitte rücke politisch nach rechts, weil sie sich in Krisen mehr Zusammenhalt und Sicherheit erhoffe.
Die wichtigsten Bedürfnisse, die Bürger in Befragungen von der Politik anmahnten, seien die Behebung von Defiziten in der Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und sozialen Ungleichheit, sagte Zick. Eine wehrhafte Demokratie müsse ihre Feinde frühzeitig identifizieren und gegen sie einschreiten, bevor diese Gewalt anwendeten.
„Wir können nicht von einer rechten Landnahme der Zivilgesellschaft sprechen, aber von mehr Energie der Rechten, in diese Bereiche vorzudringen“, sagte der Kasseler Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. Rechte Kräfte gründeten alternative Organisationen zu bestehenden Vereinen. In den Organisationen der Zivilgesellschaft gebe es eine hohe Sensibilität dafür, sie seien aber nur bedingt in der Lage, gegen Eingriffe handlungswillig und -fähig zu sein.
Der Darmstädter Politikwissenschaftler Dirk Jörke hob hervor, dass eine hohe Zustimmung zu Populisten mit sozialen Verwerfungen einhergehe. AfD-Hochburgen gebe es in den Städten in Hochhaussiedlungen der 60er und 70er Jahre, in Ostdeutschland in den Plattenbauvierteln der Trabantenstädte. Wohnverhältnisse und Bildung spielten politisch eine Rolle. Der Wissenschaftler zitierte die These, rechtspopulistische Parteien seien die neuen Arbeiterparteien.
Auf den Einfluss des Internets wies die Gießener Politikwissenschaftlerin Regina Kreide hin. Rechtsextremisten oder der russische Propagandasender Russia Today verfolgten die Strategie, die Öffentlichkeit im Netz in ein Informations-Chaos zu stürzen. Verschiedene Formen der Falschmeldung breiteten sich „rhizomartig“ aus, und US-Netzwerke hätten nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten die Faktenchecks aufgehoben. Die Folge sei eine „affektive Polarisierung“ und ein Vertrauensverlust der demokratischen Öffentlichkeit. Die demokratischen Gesellschaften müssten Antworten auf die Fragen finden: „Wem gehören die Daten? Wem gehört die Technik? Wie können wir die für alle nutzbar machen?“