Kirche soll sich aus Politik heraushalten!

Gesangbuch in der katholischen Stadtpfarrkirche in Fulda.
epd-bild/Jens Schulze
Norbert Roth: Kirche soll sich aus Politik heraushalten.
CONTRA: Roth bezieht Stellung
Kirche soll sich aus Politik heraushalten!
Kirche darf sich nicht der Parteipolitik anbiedern, sondern soll geistliche Orientierung bieten. Pfarrer Norbert Roth sagt in seinem Contra-Kommentar für evangelisch.de, dass Kirche durch das Engagement des einzelnen Mitgliedes automatisch am politischen Diskurs mitwirkt. "Die Königsdisziplin der Kirche ist es, von Jesus Christus zu sprechen." Norbert Roth ist Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde St. Matthäus in München (Bischofskirche). Roths Konterpart ist der Jugendpfarrer Matthias Braun.

Das Verhältnis zwischen Kirche und Politik bleibt spannend. Eines ist gemeinsam: Sie sind auf die "polis" bezogen, auf den öffentlichen Raum und dessen Lebendigkeit und auf dessen Anfälligkeiten. In ihm agieren beide und hier reagieren sie auf je eigene Art und Weise. Das Miteinander ist ein Suchen und Ringen. Eines bleibt jedoch konstant. Den Christen – leben sie wirklich in der Nachfolge Jesu Christi – liegt der Mensch am Herzen, unabhängig von seiner Religion, Kultur, Herkunft oder seines Geschlechts. 

Ich finde jedoch: Die schlichte Zuordnung von Kirche und Politik wirft Fragen auf. Zumindest dann, wenn man beides in dem Sinne versteht, wie es geläufig ist. Hier – die Kirche: eine Institution mit fester Struktur, Verwaltung, Vermögen, Pressestellen und über 20 Millionen freiwilligen(!) Mitgliedern. Und da – die Politik: der politische Betrieb in Berlin und den Landeshauptstädten, in Kreistagen und Gemeinderäten - mit Parteien und Funktionären, mit Macht und dem Streit um unterschiedliche Interessen der Bürgerinnen und Bürger. Das Eine hat mit dem Anderen eigentlich wenig zu tun – und doch durchdringen beide einander. Irgendwie brauchen sie sich - gegenseitig. Und bisweilen gehen sie sich auf die Nerven. 

Die Kirche geht in ihrer Argumentation – zumindest gegenwärtig – von einer mehr oder weniger klar umrissenen, ethischen Position aus. Von dieser aus unterstreicht sie die Einhaltung von Menschenrechten, setzt sich für die Demokratie ein, solidarisiert sich mit Fliehenden und pocht auf einzelne Themen im riesigen Kontext um die Bewahrung der Schöpfung. Ja, natürlich tut sie das! Und sie tut auch recht daran. Dass mich bloß niemand missversteht! Doch für diese Themen muss sie nicht Kirche sein. Menschenrechte, Demokratie, Umweltschutz – das geht alles wunderbar auch ohne jede kirchliche Bindung oder Begründung.

Also, warum tut die Kirche das? Natürlich: Weil die Themen für die Öffentlichkeit wichtig sind. Gut, geschenkt. Aber: Wer redet denn, wenn die "Kirche" so redet? Wer ist hier das Subjekt "Kirche" in diesem Sinne? Sind es die leitenden Konsistorien? Die Synoden? Präsides und Bischöfinnen? Die leitenden Organe in ihrer wechselseitigen Bezogenheit? Pfarrerinnen oder Pastoren? Können diese für die ganze Kirche sprechen – im Sinne einer politischen Haltung und in der Öffentlichkeit bestimmte Interessen vertreten? Ich bin da skeptisch. Weil die Mitglieder der Kirche nie einhellig einer politischen Meinung sein werden. Das kann man beklagen – aber man muss es aushalten. Und man muss darauf achten, dass durch die Betonung von zu sehr mit Parteipolitik verwechselbaren Themen, Menschen allein gelassen werden in ihrem Suchen nach geistlicher Orientierung.

Pfarrer Dr. Norbert Roth

Freilich: Leitende und repräsentierende Menschen der Kirche sind in der größeren Öffentlichkeit die Botschafter dessen, was der Kirche zufällt. Und ihre Äußerungen haben Einfluss auf das politische Geschehen. Noch! Und auch die Tatsache, dass die Kirche durch ihre 22 Millionen Mitglieder am politischen Diskurs mitwirkt, weil sich Kirchenmitglieder politisch orientieren und engagieren, bleibt nicht ohne Wirkung. Doch damit ist auch verbunden, dass die politischen Themen bisweilen in eine Höhe und Wertigkeit gezogen werden, in die sie nicht gehören. Die Demokratie ist eine riesige Errungenschaft und ich persönlich werde mit aller emotionalen, rationalen und sozialen Intelligenz und Kraft dafür kämpfen, dass sie erhalten bleibt. Aber sie ist nicht göttlichen Ursprungs und sie ist nicht das Reich Gottes. Deswegen sollten wir so auch nicht von ihr reden. Politische Systeme oder Ansichten – so wertvoll sie auch sein mögen – sollten nicht eine heimliche Divinisierung durch kirchliche Verlautbarungen erhalten.

Ich frage mich oft: was ist der Subtext, den wir als Kirche senden, wenn wir zunehmend über politische Inhalte gehört werden (wollen)? Was ist mit den direkten und indirekten Appellen, sich politisch opportun zu verhalten? Tun wir das, weil wir die Guten sind? Sind wir das? Wer ist wir? Sprechen wir dann nicht doch mehr über uns selbst als über das, was wir sagen wollen? Drücken wir das inhaltlich wirklich Einzigartige weg, weil wir Angst haben, die Relevanz in der Öffentlichkeit zu verlieren? Ersetzen wir theologische Inhalte durch politische? Das treibt mich wirklich um.

Etwas weiteres kommt hinzu, etwas, das der Kommunikationslogik unserer Zeit geschuldet ist. In den Mechanismen des freien Marktes um die Aufmerksamkeit, braucht es schnelle und zugespitzte Äußerungen. Sind wir uns der Versuchung zur selbstreferentiellen Themensetzung von Social Media eigentlich bewusst? Ich weiß es aus Gesprächen mit Abgeordneten des Landtags. Die sagen: "Was nicht auf oldschool facebook, auf Instagram stattfindet oder auf TikTok, das findet gar nicht statt. Ich finde nicht statt und meine Partei auch nicht, wenn ich das nicht ständig befeure." Sie müssen ihre Themen und sich als Person ständig öffentlich platzieren. Mit klaren, kurzen und manchmal ganz undifferenzierten politischen Äußerungen zum Tempolimit, zur Migration, zum Achwasweißich. Und oft erlebe ich kirchliche Äußerungen zu akuten Fragen ähnlich. Sie arbeiten mit Buzzwords und produzieren Content – ähnlich den Politikern und werden zunehmend auch als solche wahrgenommen. Aber wen rettet das?

Politik hat eine andere Logik. Wenn wir in dieser Art und Weise kommunizieren, werden Themen, die – aus christlicher Sicht – an sich nicht verhandelbar sind, zu Gegenständen politischer Mehrheitssuche. Und dann stellt sich die Frage, muss ich und kann man denn ernsthaft über "Nächstenliebe" abstimmen? Kann ich ernsthaft erwarten, dass es den erwünschten Effekt erzielt, wenn ich einem Menschen, der an nichts glaubt, das jesuanische Doppelgebot der Liebe mahnend zitiere, um ihn beispielsweise zur Windkraft zu bekehren? Welche Autorität hat Jesus für ihn? Er mag es vom gesunden Menschenverstand her verstehen. Aber dazu braucht er Jesus und dessen "Sprecherin", die Kirche, nicht. Es mag im persönlichen Streit viel eher möglich sein, jemanden von der unendlich hinreißenden Botschaft des Evangeliums zu überzeugen. Ob das durch den Grundton der kirchenhoheitlichen Verlautbarung, im Modus des Appells gelingt, bezweifle ich. 

Die Aufgabe der Kirche und ihre Leitenden Personen und Gremien besteht darin, von innen her zu wirken, aus ihrem Auftrag, das Evangelium zu verkündigen und nicht wie auch immer zustande gekommenen Dos and Don´ts zu platzieren. Es gilt, die Herzen der Christen zu schärfen, das heißt zu bilden, zu informieren, aufeinander zu hören und unentwegt im Gespräch zu bleiben. Nach außen drängt es dann von alleine – durch die Christenmenschen, die in der Politik Verantwortung übernehmen. Es ist großartig, wenn Christen den politischen Diskurs mitgestalten. Sich nicht scheuen, in die Auseinandersetzung zu gehen, um für politisch sinnvolle Entscheidungen Mehrheiten zu organisieren. Das sollen sie auch. Christen sind Bürgerinnen und Bürger – die "das Beste für die Stadt suchen sollen". Auch wenn diese Stadt von Gott gar nichts wissen will.

Doch das Engagement des Einzelnen unterscheidet sich von dem, wie Kirche als Organisation Politik macht.

Wir haben in der Kirche kein moralisches Lehramt. Daher braucht es den Diskurs – unter dem Wort Gottes. Mit allen! Und mit allen Überzeugungen – und mögen sie noch so krude sein. Denn die eine wahre christliche Position in der politischen Verantwortungsübernahme gibt es selten auf Anhieb. Das Heilmittel für das eigene Defizit liegt immer in den Händen der Anderen. Das weiß ein Christenmensch auch.

Doch mein Hauptpunkt: Die Königsdisziplin der Kirche ist es, von Jesus Christus zu sprechen. Er ist der Gegenstand ihrer Verkündigung. Er. Solus. Der gekreuzigte und auferstandene Gott. Die Kirche sollte nicht der Versuchung erliegen, Jesus schlicht immer wieder zu zitieren und seine hohen ethischen Maßstäbe zu einem Merkmal politischer Gesinnung zu machen. Wenn die Kirche nur eine vermeintliche Ethik Jesu oder die Zehn Gebote reproduziert, enthält sie den Menschen letztlich Gott vor. Weil ja schon klar gesagt wurde, was zu tun und zu lassen sei. Wozu muss ein Mensch dann noch Gott selbst fragen? 

Die Kirche wirkt politisch, in dem sie Christus verkündigt als den Ort, an dem Menschen Frieden finden – mit sich und ihrer Geschichte. Das öffentliche Bekenntnis der Kirche zum zweiten Artikel des Credo ist ein Bollwerk gegen die Machtansprüche vermeintlich unanfechtbarer Personen und Ideologien. Ein Bollwerk gegen messianische Figuren, die mit den Muskeln spielen. Der Messias zeigt nicht seine Muskeln, sondern seine Wunden. Das Bekenntnis zu Christus – dem verwundeten Auferstandenen – macht die Tür auf für die, die an sich und an den Ansprüchen anderer scheitern: die Schwachen, die Armen, die Sterbenden. Und bietet ein Zuhause für die, die mit sich und ihrer Neigung, die Dinge zu vermasseln, nicht klarkommen. Mit sich und ihrer Angst, ihrer Missgunst und dem Misstrauen. Mit sich und ihren Nächsten. Mit sich und "Gott". Mit sich und dem Schicksal dieser Welt. 

Das ist keine selbstbezogene Frömmelei – das ist höchst politisch. Weil es uns als Christen davon entlastet, zu meinen, es läge letztlich doch an uns selbst. Und: Es würde die Schärfe aus dem politischen Diskurs nehmen. 

Deswegen hat die Kirche Diskussionsräume zu öffnen, in denen sie ihrem – ich nenne es: "priesterlichen" Auftrag erfüllen kann. Priesterlich in dem Sinne, dass sie als Gesprächsort dient. Dass die Kirche Brückenbauerin ist. Zwischen einzelnen Menschen, Gruppen, Überzeugungen und Meinungen – zwischen Menschen. Zwischen Menschen und Gott. Dort ist ein safe space – für alle! Für alle! Kinder Gottes. Mehrheiten dominieren nicht die Minderheiten. Es geht nicht um die Quantifizierung von Interessen. Menschen dürfen kommen. Ganz gleich, wen sie wählen, was sie glauben, wie sie lieben. Öffentliche Räume, geschützte Räume. Ohne Angst und ohne Vorbedingung. Ohne Anklage und ohne Belehrung. Sünderinnen und Sünder willkommen! Im Modus der Bitte: "I ask you…" Das öffentlich zu sagen und diesen politischen Raum aufzumachen, das wäre in meinen Augen der gebotene Auftrag der Kirche für heute.