Frauen sind kritischere Patientinnen

Hildegard Seidl ist Humanbiologin und Fachreferentin für Gendermedizin und -pflege der München Klinik
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Humanbiologin Hildegard Seidl fordert, dass gendersensible Pflege Standard in der Pflegeausbildung sein sollte.
Gendersensible Pflege
Frauen sind kritischere Patientinnen
Empathisches und aktives Zuhören und dann die richtigen Fragen stellen: Für pflegebedürftige und kranke Menschen kann das den Unterschied ausmachen, findet Hildegard Seidl, Humanbiologin und Fachreferentin für Gendermedizin und -pflege der München Klinik. Was Frauen und Männer in Gesprächen mit Pflegepersonal umtreibt, in welchen Situationen lebenslang gelernte Rollenbilder wichtig werden und warum gendersensible Pflege Standard in der Pflegeausbildung sein sollte, erzählt Seidl im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: Frau Seidl, Sie sind Expertin für gendersensible Pflege. Vor allem das Thema gendersensible Medizin hat in den vergangenen Jahren an Fahrt aufgenommen. Inwieweit hängen diese zwei Bereiche zusammen?

Hildegard Seidl: Pflegekräfte sind zwar keine ausgebildeten Medizinerinnen oder Mediziner, sie brauchen aber sehr viel medizinisches Fachwissen, das auch Teil ihrer Ausbildung ist. Sie stellen keine Diagnosen, sie verabreichen aber tagtäglich Medikamente. Sie müssen daher zum Beispiel wissen, welche Nebenwirkungen oder welche Wechselwirkungen auftreten können, was bei einer Über- oder einer Unterdosierung passieren kann oder sie müssen wachsam sein, damit keine Medikamente verwechselt werden.

Wenn ein pflegebedürftiger Mensch über Beschwerden klagt, dann könnten das durchaus auch Nebenwirkungen von Medikamenten sein. Die Pflegekräfte müssen so etwas einordnen können und hellhörig werden. Und dazu gehört natürlich auch das Wissen, dass Männer und Frauen unterschiedlich mit Krankheitssymptomen umgehen, ein unterschiedliches Schmerzempfinden haben und Medikamente unterschiedlich bei ihnen wirken können.

Ist gendersensible Medizin dann auch Teil der Pflegeausbildung?

Seidl: Bei uns in der München Klinik ist das Thema in die Pflegeausbildung integriert. Aber da es nicht im Lehrplan steht, wäre es in jedem Fall wünschenswert, dass es überall unterrichtet wird. Selbst im Medizinstudium ist Gendermedizin noch in den Kinderschuhen. Das Bewusstsein dafür, dass Männer- und Frauenkörper anders auf Krankheiten und Medikamente reagieren, ist bei vielen Lehrenden noch nicht geschärft.

Pflegekräfte sind ja sehr nah an den Menschen dran. Was ist mit traditionellen Rollenbildern und Zuschreibungen, was typisch Mann und was typisch Frau ist?

Seidl: Die spielen eine sehr große Rolle. Niemand ist ganz frei von Vorurteilen oder Stereotypen - weder Pflegekräfte noch Pflegebedürftige. Dessen müssen sich Pflegekräfte bewusst sein und auch sich selbst reflektieren. Sie verbringen viel Zeit mit Pflegebedürftigen. Da braucht es eine gute Beziehung zwischen Patient und Pflegekraft. Dass eine gute Beziehung entsteht - das ist auch Aufgabe der Pflegekraft.

Wie soll das funktionieren, wenn zum Beispiel ein Mann mit einem sehr konservativen Rollenverständnis sich nichts von einer weiblichen Pflegekraft sagen lassen will?

Seidl: Eine Pflegekraft kann keiner pflegebedürftigen Person vorschreiben, dass sie ihre Rollenbilder ändert. Ja, man kann ein respektvolles Benehmen einfordern, niemand muss sich beschimpfen lassen. Aber es wäre utopisch zu glauben, dass eine ältere Person plötzlich ihre lebenslang erlernten Sichtweisen ändert.

Mit Vorurteilen gelassen umgehen

Deshalb ist es gut, wenn die Pflegekraft lernt, damit professionell umzugehen. Wenn ein Mann einer Pflegerin sagt, dass sie etwas nicht könne, nur weil sie eine Frau sei, dann hilft es wenig, wenn die Pflegekraft emotional, verletzt und zurückweisend reagiert. Es ist besser, bestimmt, aber freundlich - und vor allem wertungsfrei - zu antworten, zum Beispiel: "Ich habe das in meiner Ausbildung gelernt, kenne mich sehr gut damit aus und habe es schon oft gemacht."

In der Pflege gibt es ja sehr oft intime Situationen: Menschen können sich vielleicht nicht mehr alleine waschen, alleine zur Toilette gehen oder alleine anziehen. Vielen ist da wahrscheinlich eine Pflegekraft des eigenen Geschlechts lieber, oder?

Seidl: Die Pflegebedürftigen sind in solchen Momenten buchstäblich nackt - körperlich wie emotional. Das dürfen Pflegekräfte nicht einfach wegwischen. Erfahrungsgemäß gibt es im Pflegealltag eine Lösung, wenn zum Beispiel Jugendliche von einer gleichgeschlechtlichen Pflegekraft versorgt werden möchten. In einem gemischten Team kann in der Regel auf solche Wünsche eingegangen werden. Das trägt zu einer wohltuenden Situation bei. Das ist wichtig.

Wo im Pflegealltag kommt es denn noch sehr auf das Zwischenmenschliche an?

Seidl: Wir haben sehr oft mit chronisch kranken Menschen zu tun, die immer wieder ins Krankenhaus in dieselbe Station kommen. Da ist es wichtig, zu wissen, dass chronisch Kranke sich sehr intensiv mit ihrem eigenen Krankheitsbild auseinandersetzen und oft besser Bescheid wissen als Pflegekräfte oder Ärzte. Oder Patienten mit mehreren Krankheiten, zum Beispiel Diabetes, Rheuma und etwas an der Lunge: Ein Arzt hat den Fokus auf die Erkrankung, die in seine Fachrichtung fällt. Der Patient hingegen hat das Gesamtbild im Blick und kennt die Einschätzung auch der anderen Ärzte.

Patienten sind Experten in eigener Sache

Solche Patienten, die ja Experten in eigener Sache sind, muss man viel mehr in den Behandlungsprozess miteinbeziehen - und nicht genervt sein von ihrem Gesprächsbedarf. Ihr Wissen ist wertvoll für alle Beteiligten. Generell sind Frauen kritischere Patienten als Männer, sie wollen detailliertere Informationen. Wenn man das weiß, kann man das Gespräch mit ihnen gleich anders aufbauen.

Zeit ist aber in der Pflege ein knappes Gut...

Seidl: Deshalb ist die Gesprächsführung ein großes Thema in der Pflegeausbildung. Empathisches und aktives Zuhören und dann die richtigen Fragen zu stellen, ist wichtig für den Behandlungserfolg. Da muss man eben schauen, wen man vor sich hat: männlich oder weiblich, welche Lebensphase. Es ist ein Unterschied, ob ich ein Kind, einen Jugendlichen, einen berufstätigen Menschen, einen Menschen mit kleinen Kindern oder einen Ruheständler vor mir habe. Die haben völlig andere Prioritäten.

Inwieweit können die Pflegekräfte darauf eingehen?

Seidl: Nehmen wir das Beispiel einer älteren Frau, die sich vor allem um Familie und Kinder gekümmert hat. Die Ärzte raten zu einer Rehabilitationsmaßnahme (Reha), sie lehnt diese aber strikt ab. Das kann man als Arzt oder Pflegekraft akzeptieren und abhaken - oder man fragt gezielt nach, warum sie diese ablehnt. Erfahrungsgemäß wollen viele Frauen, die sich vor allem in der Versorgerrolle sehen, ihre Familien nicht alleine lassen. Ihnen geistern sofort Fragen durch den Kopf: Wer wäscht, wer kümmert sich um die Enkelkinder, wer kocht, wenn ich im Krankenhaus liege?

Dafür gibt es aber Lösungen, die wir dann aufzeigen können. Vielleicht kann jemand anderes für die Betreuung der Enkelkinder einspringen, es gibt Essen auf Rädern, Haushaltshilfen, für pflegebedürftige Angehörige kann Kurzzeitpflege beantragt werden. Und und und. Das hat etwas mit Biografiearbeit zu tun, die auch Überschneidungen mit gendersensibler Pflege hat.

Dieser zwischenmenschliche Bereich in Pflege und Medizin wird doch dann immer noch stark unterschätzt, oder?

Seidl: Das Beispiel der älteren Frau zeigt: Durch gezieltes Nachfragen kann sich die Krankheitsgeschichte eines Menschen komplett ändern. Von daher plädiere ich sehr dafür, dass gendersensible Pflege Standard in der Pflegeausbildung wird.