Gießen (epd). Deutschland erlebt nach den Worten des Gießener Soziologen und Theologen Reimer Gronemeyer eine „fundamentale Krise der Dienstleistungsgesellschaft“. Viele Menschen hätten den Eindruck: „Nichts funktioniert mehr, und ich selber funktioniere auch nicht mehr“, sagte Gronemeyer dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das sei ein neues Phänomen. „Wir hatten schon Krisen aller Art, aber diese erstreckt sich auch auf die persönlichen Lebensläufe.“
Gespräche drehten sich häufig um die Krise der Bahn, „das Zusammenbrechen einer Dienstleistung, die so fundamental für unsere Gesellschaft ist“. Eltern suchten Kita-Plätze, Patienten warteten auf Arzttermine, in Schulen regne es hinein, Handwerker seien ausgebucht. „In der Pflege haben wir eine klaffende Schere zwischen Pflegebedürftigen und Pflegekräften.“ Heime und Demenzabteilungen müssten schließen.
Auslöser der Krise ist Gronemeyer zufolge die Vorstellung: „Wir haben ein Problem und kaufen eine professionelle Dienstleistung. Wir sind so darauf gedrillt worden, Experten zu rufen, dass wir nichts mehr selbst können.“ Seit den 1970er Jahren habe sich das Muster, für Professionalität Geld zu zahlen, „bis zum Exzess“ fortgeschrieben.
Die zentrale Frage sei, „wie wir als Gesellschaft damit umgehen wollen“, formuliert Gronemeyer in seinem Buch „Nichts funktioniert mehr. Welche Chance!“. Der Wissenschaftler betonte: „Wir werden nicht ohne die Profis auskommen.“ Er setze jedoch auf die Vision einer „Caring Society“, einer gemeinschaftlichen Sorge um die Mitmenschen. „Wir müssen einen Blick darauf werfen, was wir noch selbst können, nachbarschaftlich und freundschaftlich.“ Das könne von Repair-Cafés über das Wissen um alte Hausmittel bei leichten Krankheiten bis zum Ausprobieren neuer generationenübergreifender Wohnformen reichen. Er sehe eine „unglaubliche Kraft“ bei den Menschen, Dinge selbst zu machen.
Eine solche „Caring Society“ brauche allerdings die „Tugend der Umsonstigkeit“, sie müsse wegführen von der Monetarisierung der Beziehungen, forderte der emeritierte Professor für Soziologie. Fast immer gebe es die Bereitschaft, anderen zu helfen. Für ihn habe das auch etwas mit christlicher Barmherzigkeit zu tun. „Mir geht es darum zu sagen: Es muss nicht im Finsteren enden. Wir können das Eis in uns aufhacken.“