Dem "Volk aufs Maul" schauen: Wolfgang Müller aus Pfinztal (Kreis Karlsruhe) nimmt das Lutherzitat wörtlich. Der Prädikant hält Gottesdienste in Mundart und begibt sich sozusagen auf "Ohrenhöhe" mit den Gottesdienstbesuchern. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Rosie, die bei den Gottesdiensten mitwirkt, steuert Wolfgang Müller 2025 auf den 100. Mundartgottesdienst zu. "Alles soll in Liebe gscheh‘" lautete in seinem südfränkischem Zungenschlag die Jahreslosung 2024 aus dem 1. Korintherbrief "Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe".
Die Botschaft der gelebten Nächstenliebe kommt an. Der südfränkische Dialekt ist in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und im Nordelsass zu Hause. Umgangssprachlich wird der Dialekt im Norden des ehemaligen Staates Baden und in der Kurpfalz als "Badisch" bezeichnet. Die in Nordwürttemberg gesprochenen Dialekte sind als "Schwäbisch" bekannt. Die Herausbildung des Dialektraums erfolgte viel früher als die erst 1803 gezogene politische Grenze zwischen Baden und Württemberg.
"Grenzen sind etwas Künstliches. Es ist besser, ohne regionale Grenzen zu denken", erzählt Wolfgang Müller im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Grenzen zu überwinden, darauf legt er Wert. Beim Fußballspielen in der Jugend habe er früh gelernt: "Wo der Ball hinsoll, da musst du dich aufhalten." Also habe er sich nahe an den Strafraum gestellt, um Tore zu schießen. Als evangelischer Christ will er die Menschen ebenfalls dort abholen, wo sie beheimatet sind - in ihrer Sprache.
"Wir bekommen eine große Aufmerksamkeit durch die Mundart", sagt Rosie Müller. Als ehemalige Religionslehrerin liest sie die Texte der Gottesdienste gegen. Wenn sie meint "die Oma hätte das aber anders gesagt", muss Ehemann Wolfgang nachbessern und nach treffenderen mundartlichen Ausdrücken suchen. Die "bekannten Bibeltexte dringen dann tiefer", so Rosie Müller. Die Predigt komme nicht "von oben herab" und erreiche die Menschen im Herzen. "Die akademische Sprache in der Kirche wirkt elitär und ist oft oberflächlich."
Mundart ist nicht Büttenrede
Zu Anfang stieß die Idee, Gottesdienste in Dialekt zu halten, auf Skepsis, berichten Wolfgang und Rosie. Man werde leicht als bildungsfern wahrgenommen, wenn man Mundart spreche. "Die Leute dachten bei Mundart an büttenredenartige Gottesdienste wie zu Fastnacht", berichten sie. Doch die Mundartgottesdienste der Müllers haben einen ernsthaften Kern. Im Ablauf folgen sie einer "normalen" liturgischen Form. Mit Ausnahme der Psalmen, des Vaterunsers und der Lieder wird aber eben Dialekt gesprochen. "Sie verstehen, dass ich dann am Sonntag nicht komme", habe einmal ein Kirchenmitglied gesagt, berichtet Wolfgang Müller.
Später beim gemeinsamen Kirchkaffee habe sich diese Person dann voller Begeisterung an den Gesprächen beteiligt. "Wer im Gottesdienst bei uns zugehört hat, ist anschließend gesprächsbereit", ist er überzeugt. Aus den vielfältigen Kontakten von Fußballspielern bis zu Kirchenvertretern seien öfter soziale Projekte entstanden, die "für den Ort segensreich waren", erinnert sich Wolfgang Müller an die Flüchtlingskrise 2015. Es habe aber von Anfang an wichtige Leute in der Evangelischen Landeskirche in Baden gegeben, die ihn unterstützten - namentlich der ehemalige nordbadische Prälat Traugott Schächtele.
In den Mundartgottesdiensten verwirklicht der Sonderpädagoge, der ursprünglich Theologie studieren wollte, sein seelsorgerliches Anliegen. Er geht auf die Menschen zu und verkündet augenzwinkernd, frei nach Kolosser 3, 14-15, nicht "über alles ziehet an die Liebe", sondern "schlupfet in die Liebe nei". Die aufmerksamen Gottesdienstbesucher verstehen genau, was Ihnen Wolfgang Müller sagen will, nämlich: "Das Gutmensch-Mäntele langt net."