Es geht in dem Buch um Hate-Speech und Anfeindungen in den digitalen Räumen. Denn X, TikTok, Instagram und Co. heißen zwar "soziale Medien", sind aber keine klassischen Medien mit einer Redaktion oder gar einem Pressekodex. Eine Internet-Plattform in Deutschland ist noch lange keine deutsche Plattform, sondern folgt meist US-amerikanischem Recht. So macht derzeit der reichste Mann der Welt, der über seine Plattform X an Einfluss gewonnen hat, keinerlei Anstalten, sein digitales Sprachrohr irgendwelchen demokratisch legitimierten Kontrollen zu unterziehen. Im Gegenteil setzt Elon Musk offensiv auf Polarisierung und Desinformation.
Dabei seien soziale Medien grundsätzlich gerade für religiöse Minderheiten gute Plattformen, um miteinander in Kontakt zu treten, sagt Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland: "Für viele jüdische und muslimische Nutzer sind Plattformen wie Instagram und TikTok mehr noch als für Christen wertvolle Orte des Austausches, der Repräsentation und der Vernetzung. Gemeinsame Gruppen können das Identitäts- und Gemeinschaftsgefühl stärken und sozialen Halt bieten."
Das seien die positiven Eigenschaften von Social Media. Soziale Medien seien somit heute gar nicht mehr wegzudenken, wenn da nicht auch die Schattenseiten wären. "Demgegenüber sehen sich Juden wie Muslime online auch mit Hass und Vorurteilen in nie da gewesenem Ausmaß konfrontiert und sind damit scheinbar auf sich allein gestellt", so Botmann weiter.
Denn X, TikTok, Instagram und Co. heißen zwar "soziale Medien", seien aber Plattformen, die sich für die Inhalte meist nicht verantwortlich fühlten. Daniel Botmann vom Zentralrat der Juden in Deutschland hält aber dagegen: "Plattformbetreiber können argumentieren, dass soziale Medien als Spiegelbild der Gesellschaft immer nur abbilden, wie Menschen sich auch jenseits des digitalen Raums verhalten. Da würde ich den Plattformbetreibern widersprechen. Denn soziale Medien sind kein reines Spiegelbild der Gesellschaft. Sie verzerren und verschmieren das Bild auf eine hässliche Weise. Debatten im digitalen Raum sind emotionaler, polarisierender und schärfer als wir das sonst kennen. Es fehlt jeglicher effektiver Filter. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Anonymität entsteht der fälschliche Eindruck eines rechtsfreien Raums."
Kein rechtsfreier Raum
Doch Plattformen sind nicht völlig rechtsfrei. Es gibt Präzedenzfälle, wo User:innen sich erfolgreich wehren konnten. So waren es 2011 jüdische Studierende in Frankreich, die Twitter verklagt hatten. Damals ging es um den Tweet #unbonjuif, also ein guter Jude. Es wurden massenweise auf Twitter Sprüche geteilt wie: Ein guter Jude ist ein toter Jude, ein guter Jude ist ein blinder Jude, usw. Die Klage dagegen ging bis zum Europäischen Gerichtshof. Plattformen wie X, Facebook, Instagram usw. sind heute dazu verpflichtet, IP-Adressen herauszugeben, wenn jemand strafrechtlich relevantes Verhalten auf Plattformen an den Tag legt.
Daran müssten sich auch deutsche Gerichte orientieren. Doch so einfach sei das nicht. Maik Fielitz, Bereichsleiter Demokratie- und Rechtsextremismusforschung am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft IDZ in Jena beschreibt das Problem: "Die Frage der Verantwortung ist die Gretchenfrage. Denn im Endeffekt weisen alle Plattformen die Verantwortung über die Inhalte zurück, weil sie sagen: Wir vermitteln nur zwischen Sender und Empfänger, zwischen Userinnen und Usern, die dort sich selbst überlassen sind." Es gebe zwar Lösch-Algorithmen. Doch diese funktionierten zu ungenau. Personal für das Monitoring würde schlicht eingespart. Ein weiteres Problem: Influencer:innen würden oft größere Reichweiten erzielen als klassische seriöse Medien. Das sei gut für das Geschäft, denn je drastischer die Äußerungen, umso mehr Klicks, umso mehr Umsatz, so die Rechnung der Plattformbetreiber. Es gehe schlicht um Profitmaximierung, so die Kritik von Maik Fielitz.
Täglich Hass und Hetze
Hass und Hetze stürzen somit fast ungehindert auf User. "Es ist ein Trauma für alle. Was definitiv gepackt wird, sind die digitalen, die virtuellen Koffer, weil sich junge Jüdinnen und Juden die Frage stellen müssen, will ich diesen Hass mitansehen oder kämpfe ich", beklagt Avital Grinberg, General Managerin bei EU Watch in Brüssel. EU Watch ist eine Organisation, die sich der zivilgesellschaftlichen Debatte verschrieben hat.
Avital Grinberg selbst hat sich aus den sozialen Medien weitestgehend zurückgezogen, weil sie sich dem Hass und der Hetze nicht mehr aussetzen will. Andere aber wollen weiter auf X, TikTok, Instagram und Co. präsent sein, auch um gerade dort wichtige Informationen über das Judentum und das eigene Jüdischsein weitergeben zu können. Auf Schutz durch den deutschen Staat können sie dort aber kaum hoffen. Die Gerichte seien schlicht überfordert, weiß Plattformexperte Maik Fielitz: "Staatliche Eingriffe kommen an ihre Grenzen. Wenn man sieht, wie verschiedene Staatsanwaltschaften überlastet sind. Das Justizsystem wird lahmgelegt. Es ist die Frage, ob zivilgesellschaftliche Organisationen die Aufgabe haben, die Drecksarbeit der Plattformen durchzuführen?"
Insofern ist die neue Publikation in der Analyse auch eine Anklage, dass die europäische, wie eben auch die deutsche Politik dem Unwesen in den sozialen Medien endlich einen wirkungsvollen Riegel vorschieben müssen.
Buchhinweis:
[DIS]LIKE – Soziale Medien zwischen Zusammenhalt und Polarisierung, Verlag Hentrich & Hentrich Leipzig, 186 Seiten, 12,90 €, ISBN: 9783955656911