Das Herzensgebet oder auch Jesusgebet ist "eine mantrische Meditationsform aus den ersten christlichen Jahrhunderten". So fasst der frühere Meditationsbeauftragte der Nordkirche, Pastor Wolfgang Lenk, die Meditationsform zusammen. "Man setzt sich auf einen Stuhl oder ein Meditationsbänkchen und tut einfach nichts", sagt er. Nur atmen und die Meditationsformel innerlich wiederholen.
Ursprünglich stamme das Herzensgebet aus den ersten christlichen Jahrhunderten. "Es entspringt einer Sehnsucht nach Gott, die in mantrischen Formeln und Gesängen viele Religionen kennen", sagt Lenk.
In der christlichen Tradition "ist das Herzensgebet sichtbar geworden in der Zeit, als die Kirche Staatskirche wurde und man in der Kirche Karriere machen konnte", ergänzt der Pastor. Und das behagte sehr vielen Menschen nicht. Diese Menschen gingen in die Wüste, um "ein einfaches, schlichtes Leben nach dem Evangelium zu leben". Und dort hätten sie aus der Betrachtung biblischer Texte heraus, kurze Sätze oder sogar nur ein Wort als das Herz des Gebetes entwickelt.
Traditionell verwendet man in der Ostkirche die Formel "Jesus Christus, erbarme dich meiner". Man kann und darf auch andere Worte aus der Bibel nehmen oder Worte, die die Sehnsucht oder den Glauben ausdrücken. "Shalom" – Frieden. "Du". "Vater" oder "Du bist da!"
Jedes biblische Wort eignet sich für die Meditation
"Was nun die erste Formel des Herzensgebets war oder ob es noch andere Formeln gab, weiß man nicht", sagt Lenk. Jedes biblische Wort sei möglich. Zum Beispiel: Als Maria Magdalena den auferstandenen Christus erkennt, der sie anredet mit Maria. Da ist ihre Antwort: "Mein Meister, mein Rabbi!" Auch das sei ein mögliches Herzensgebetswort. Im griechisch geschriebenen Neuen Testament sind diese Worte in aramäisch gehalten – weil sie einen hohen Rang hatten. Und Jesus selbst spricht immer wieder von "Abba", von Vater, wenn er vom Göttlichen redet, unterstreicht der Pastor. Abba sei auch ein Gebetswort. Er verweist auf den Apostel Paulus als weitere Quelle für diese Gebetsformel. Im achten Kapitel des Römerbriefs beklagte Paulus zwar, dass die Christen nicht wissen, was sie beten sollten. Dabei schreibt er zuvor: "Der Geist betet in uns. - Abba, lieber Vater!" Das sind für Wolfgang Lenk Indizien dafür, dass in sehr früher Zeit solche mantrischen Formeln schon da waren. So wie auch "Halleluja" und "Amen", die aus der hebräischen Bibel, aus dem Judentum stammten. Doch zunächst zur Anwendung.
Heute bieten eine Hand voll evangelische Kirchen in Hamburg und Hannover oder in Osnabrück, aber auch weiter im Süden, sowie evangelische Kloster-Gemeinschaften die Übung des Herzensgebet an. In der Kirche der Stille in Hamburg wird jeden Donnerstag das Herzensgebet gemeinsam in Stille praktiziert. Es ist eine offene Gruppe.
Schon der Innenraum überrascht: Die kleine neugotische "Kirche der Stille" in Altona ist leergeräumt. Statt Chorgestühl und Altar ist die Mitte ein Freiraum. Ein paar Meditationsbänkchen und -kissen liegen kreisförmig um die leere Mitte.
Wochentags ab 12 Uhr kann man hierher kommen zum Meditieren oder Beten. Wer möchte, erhält vor dem Herzensgebetsabend eine Einführung in diese Praxis. Heidrun Schulze leitet diese Meditationsabende. Sie versteht das Gebet als "mantrisches Beten mit einem Wort und einem oder einem Vers". Der oder die Übende versuche über das Wiederholen dieser Formel "in die eigene Gegenwärtigkeit und dadurch in Gottes Gegenwärtigkeit" zu kommen. Eine Resonanzerfahrung. Die ausgewählte Formel sollte dabei nicht nur persönlich, sondern auch stimmig oder tragend sein. Anfänger empfiehlt Schulze zum Beispiel: "Beschütze mich. Beleuchte mich" oder "Ich in dir – du in mir". Oder einfach "Du". Man kann seine Formel auch später ändern. Manche gehen laut Schulze ein Leben lang mit ihrem Gebetswort durchs Leben.
In der Kirche der Stille wird vor der Meditation ein Vers oder ein Gedicht vorgelesen. Der sogenannte Impuls. Dann wird die Klangschale angeschlagen und die Meditationsrunde beginnt. Jeder wiederholt still und in Gedanken 25 Minuten lang seine Formel. "Man kann sein Meditationsworte mit dem Atem verbinden", sagt sie. Und immer wenn man gewahr wird, dass man sein Wort verlassen habe, kehre man wieder zurück dorthin. Ohne Vorwürfe oder Bewertung. Zwei Meditationsrunden seien es am Abend, unterbrochen von einer mehrminütigen Gehmeditation.
Heidrun Schulze hat in den vielen Jahren der Praxis erfahren, dass das Meditationswort in das Innerste führen kann und "in die Tiefe". In eine Verbindung oder eine Beziehung mit Gott. Sie sucht nach Worten für das allmähliche Vertiefen. Es sei ein Mysterium: "Das Meditationswort entfaltet Facetten, die ich selber gar nicht so auf dem Schirm habe", unterstreicht sie. In diesem inneren Prozess offenbare sich "eine große Fülle von Erfahrungen und Erkenntnissen", die "tiefer in das göttliche Geheimnis" hineinführen. Und dieses Geschehen "weitet" und "ändert den Blick auf sich und andere" – es sei ein Resonanz-Geschehen.
Ein Weg dem Licht mehr Raum zu geben
Ob das Herzensgebet ein Weg ins göttliche Licht sei? Schulze sagt: "Das Licht ist schon da. Es sei ein Weg, vielleicht mehr zu sehen oder dem Licht mehr Raum zu geben." Was verborgen sei, komme ans Licht. Das Ermutigende sei, dass die Menschen mit dieser Übung nicht alleine seien. Sie erhalte immer wieder Rückmeldungen und Teilnehmende schätzten es, zusammen zu meditieren, weil sie fühlten "Teil einer Gemeinschaft zu sein", die gemeinsam auch auf dem Weg sei. Zum Herzensgebet gehöre immer auch geistliche Begleitung. Falls es Verständnisfragen gebe oder wenn dunkle Schatten auftauchten.
Wolfgang Lenk ist seit sechs Jahrzehnten auf diesem Weg der Meditation. Lenk verweist immer wieder auf Verse, die für ihn ausdrücken, was in der Meditation geschieht. So nennt er Ephräm den Syrer (306-373) mit seinen überlieferten Worten:
"Geheimnisvoll waltest du überall und überall bist du verborgen. Wirklich gegenwärtig in der Höhe. Aber die Höhe kann dich nicht fassen. Du bist in der Tiefe, aber sie umgreift dein Wesen nicht. Du bist ganz nur Wunder, wo immer wir dich suchen."
Und dieses Wunder gilt es laut Lenk zu entdecken, in allem. "Nicht ich bin der Mittelpunkt der Welt, sondern Teil des Lebens", ist sein Resümee. Die Meditation ermöglicht gleichsam einen Perspektivwechsel. Das Denken klappt um. Lenk weiß um die Schwierigkeit den Prozess in Worte zu fassen:
"Alles Beschreiben, ist ja bereits wieder fixieren - ich erlebe es als Prozess, der letztlich das ganze Leben erfasst und durchtränkt. Nicht mehr so wichtig sein und bin doch unendlich geliebt und wichtig als ein Ausdruck der göttlichen Liebe. Nicht, indem ich mich moralisch anstrengen muss, möglichst viel zu sein. Sondern indem ich durchlässig werde für Größeres."
Doch welches Gottesbild ergibt sich aus dieser Haltung? Wieder verweist Lenk auf ein Sinnbild: "Gott ist der Kreis, dessen Mittelpunkt überall, dessen Umfang nirgends ist." So habe der Jesuit Josef Sudbrack einmal das Gottesbild der Mystiker auf den Punkt gebracht. Nicht fassbar und doch allgegenwärtig. Ein Rätsel oder doch ein Wunder? Lenk glaubt, dass das große Problem unserer Zeit sei, dass Menschen "das Wunder oder auch das Geheimnis des Lebens nicht so ohne Weiteres aushalten können".
Gott ist nicht fassbar und doch allgegenwärtig
Apropos Aushalten: Die Stille in der Meditation, die sei nicht harmlos. Meditationsapps auf dem Handy sind laut Lenk völlig ungeeignet, dem Suchenden Halt zu geben. Wer sich ernsthaft auf den Weg mache, begegne sich selbst auch in Aspekten seines Lebens, die nicht nur sympathisch seien. Deshalb werde in vielen Meditationstraditionen eine geistliche Begleitung empfohlen.
Es sei wichtig zu wissen, an wen man sich wenden könne, wenn man an Abgründe des eigenen Wesens gerate. Solche Abgründe können laut Lenk auch Schuldgefühle sein. Wenn man plötzlich erkennt, wie vielen Menschen im Leben man Unrecht getan habe. Eine Erschütterung auch wenn man ahnt: "Das Bild von meinem Leben stimmt nicht, aber was ist mein Leben dahinter?" Die Meditation kann durch so einen Prozess der Selbsterkenntnis in der Stille auch an Tiefe gewinnen und ein innerer Frieden taucht auf – im Loslassen gleichsam. Im Einlassen auf das, was kommt.
Geistlich Begleiten heißt, nicht zum Guru werden
Eine gute geistliche Begleitung, betont Meditationslehrer Lenk, sei niemals entmündigend. "Begleiten heißt, nicht zum Guru werden". Ein anderer Mensch "weiß nicht besser, was für mich gut ist". Das heißt, dass sich geistliche Begleiter völlig zurücknehmen sollten und dem Suchenden nicht die eigene Spiritualität aufdrücken dürften. Allenfalls Denkanstöße könnten sie mitgeben.
Noch ein Wort zur Verwurzelung des Herzensgebets in der Kirche. Oft werde das Jesusgebet nur als Teil der Tradition der Ostkirche gesehen. Doch auch der Westen habe das ganze Mittelalter über Meditationsformeln gekannt. Diese Verengung der Meditationsformel auf den Gebetsruf: "Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner" - das sei erst später entstanden. Der Abt und Wüstenvater Johannes Cassian, der im vierten Jahrhundert die Wüsten-Mütter und -Väter in Ägypten besuchte, habe "vielerlei Herzensgebetsworte mit in die westliche Tradition gebracht".
Zum Beispiel wurden die Gebetsformeln auf den Ordensgründer Benedikt von Nursia verdichtet - in einem langen Gebet. Der Benediktinerorden hatten es als Herzstück in seiner Liturgie eingebaut: "Eile Gott, mich zu erretten, mir zu helfen" – aus Psalm 70.
Diese mantrischen Formeln, die Cassian aus der Tradition der Wüstenväter in die westliche Tradition eingeführt habe, die hätten weitergewirkt, auch im Verborgenen bis in die Mystik hinein. Bis hin zu Gerhard Terstegen (1697 bis 1769) dem evangelischen Laienprediger und radikalen Pietisten, glaubt Lenk.
So erzeuge alle Theologie Bilder von Gott – die man aber als "Brücken" oder "Hinweise" auf Gott einordnen müsse. Sie seien nicht mit Gott zu verwechseln, unterstreicht Wolfgang Lenk. "Und da liegt sicher der Konflikt zwischen einer predigenden Kirche, die das gesprochene Wort mehr oder weniger mit Gottes Wort identifiziert und einem mystisch meditativen Weg, der primär auf das Geheimnis verweist, auf die Erfahrung." Vielleicht blieb die Mystik mit ihrem Weg des Schweigens der Institution Kirche immer fremd, weil die Mystik ohne die Kirche auskommen könne, ohne Predigt und Ritual. Doch selbst wenn man über das Innerste, das Göttliche eigentlich nicht reden kann. Die Mystik war immer sehr beredt. Von dem Dominikanermönch Meister Eckhart etwa sind viele Traktate überliefert. Er wurde zum Schöpfer neuer Worte für das Unsagbare.
Hinweis und Links:
Kirche der Stille, Hannover
Kirche der Stille, Hamburg
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