"Pharisäer – Kaffee, Rum, geschlagene Sahne", so heißt es auf einer Getränkekarte. "Oh, ihr Pharisäer!" soll in Nordfriesland irgendwann im 19. Jahrhundert ein Pastor ausgerufen haben, als er gewahr wurde, dass man in einer Taufgesellschaft Rum im Kaffee mit einem Sahnehäubchen kaschieren wollte. So hat eine norddeutsche Kaffeespezialität ihren Namen bekommen durch Aufnahme der oft negativen Zeichnung von Pharisäern im Neuen
Testament. "Du Pharisäer" – das findet leider auch als Schimpfwort Verwendung.
Es wird nicht wenige Menschen geben, bei denen das Stichwort "Pharisäer" Gedanken und Empfindungen auslöst wie "scheinheilig", "heuchlerisch", "bösartig", Gegner, ja, Feinde in ihrer Haltung und ihrem Verhalten Jesus gegenüber. Im Neuen Testament werden Pharisäer öfter mit Schriftgelehrten in einem Atemzug genannt. Letztere waren besonders bewandert und gebildet im Verstehen und in der Auslegung der heiligen Schriften. Sie spielen bei den Pharisäern eine besondere Rolle, es hat sie aber auch in anderen Gruppierungen des Judentums gegeben.
Ich habe einmal in einer Gruppe von Lektoren:innen und Prädikanten:innen gefragt, was sie positiv zu Schriftgelehrten und Pharisäern sagen könnten. Die Antwort war beredtes Schweigen. Pharisäer werden mit Negativem im oben skizzierten Sinne in Verbindung gebracht. Und dieses Pharisäer-Bild hat einen Einfluss auf das Verständnis von Juden und Judentum ausgeübt, tut es wohl auch heute noch; es ist eingeflossen in antijudaistische und antisemitische Vorstellungen.
Pharisäer – pauschal, verallgemeinernd, verzerrend werden sie oft bis heute in negativer Weise in Predigten, aber auch in anderen Zusammenhängen wie Kinderbibeln Jesus und seinem Wirken gegenübergestellt. In vielen Kirchengemeinden ist seit ihrem Erscheinen die sogenannte "BasisBibel" in
Gebrauch. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) empfiehlt sie als "gut lesbare Bibelübersetzung, insbesondere zur Erstbegegnung mit der Bibel und im Bereich der Arbeit mit Kindern, Konfirmanden und Jugendlichen".
Pauschalität ist einseitig, unrichtig und negativ
Ein Kennzeichen der Basisbibel sind Randbemerkungen, in denen bestimmte Begriffe des Bibeltextes erklärt werden. Zum Begriff "Pharisäer" findet sich wieder und wieder diese eine Erklärung: "Angehöriger einer jüdischen Glaubensgruppe, die die biblischen Vorschriften und Gesetze sehr streng auslegte". Das ist in meiner Sicht ein Pauschalurteil und in dieser Pauschalität einseitig, unrichtig und negativ.
"Streng", gar "sehr streng" ist eher selten eine positive Empfehlung. Es klingt schon anders, wenn das Glossar im "Das Neue Testament – jüdisch erklärt" zum Stichwort "Pharisäer" sagt: "Jüdische Bewegung, die die mündliche Tora entwickelte und jüdische Lebensregeln auf alle Lebensgebiete ausdehnte." Oder nehmen wir die Ausführungen in der Theologischen Realenzyklopädie, nach der es den Pharisäern darum ging, dass "das ganze Volk durch die Bewahrung der Tora ´geheiligt` werden sollte" im Sinne von 2 Mose 19,6, wo es von Gott her heißt: "Ihr aber sollt mir als ein Königtum von Priestern und als ein heiliges Volk gehören".
Pharisäer bedeutet der "Abgesonderte"
In diesem Zusammenhang dürfte auch der Name "Pharisäer" selbst stehen; nach einer Erklärung bedeutet er wohl "Abgesonderte", allerdings nicht als Absonderung von Menschen, sondern von einer Lebensweise, die dem Heilswillen Gottes nicht entspricht. Zur irdischen Zeit Jesu hat es im Judentum mehrere religiöse bzw. religiös-politische Gruppierungen gegeben: Sadduzäer, Zeloten, Sikarier, Essener und nicht zuletzt Pharisäer. Und wie es ja auch heute noch ist: Schon innerhalb von bestimmten Gruppierungen sind Ansichten, Meinungen, Überzeugungen, Schwerpunkte nicht einheitlich; es wird diskutiert, ja vielleicht gestritten.
Und das gilt noch mehr für das Verhältnis unterschiedlicher Gruppierungen zueinander. Das war auch bei den Pharisäern zur irdischen Zeit Jesu innerhalb ihrer Gruppierung und in deren Verhältnis zu anderen der Fall. Im Neuen Testament selbst finden sich unterschiedliche Ansichten von Pharisäern zu Jesus. Sie reichen von Sympathie bis zu Ablehnung. Zu einer richtigen Einordnung von Jesus und Pharisäern im Neuem Testament muss man sich Folgendes unbedingt vor Augen halten:
1.) Jesus und seine Bewegung sind wie auch die Pharisäer Juden. Gespräche, Diskussionen und Auseinandersetzungen zwischen Jesus und seinen Anhängern:innen einerseits und Pharisäern andererseits sind also innerjüdische Kommunikationen.
2.) Das Neue Testament, wo vor allem in den Evangelien und in der
Apostelgeschichte von Pharisäern die Rede ist, ist wie das Alte Testament, ein Dokument des Judentums. Die neutestamentlichen Schriften stammen, zumindest weitgehend, von Juden, und zwar von Juden, die im Unterschied zu anderen an Jesus als Messias / Christus glauben. Letztlich geht es ja im Neuen Testament um die Frage, wer Jesus ist; das Bekenntnis zu Jesus als Messias / Christus ist in unterschiedlichen Formen Dreh- und Angelpunkt aller neutestamentlichen Schriften.
3.) Die Evangelien und die Apostelgeschichte des Neuen Testaments sind im Zeitraum der Jahre von etwa 70-100 entstanden, und damit rund 40 Jahre
und länger nach dem irdischen Auftreten Jesu; sie haben zum Hintergrund eine Zeit, in der mehr und mehr Nicht-Juden sich der christusgläubigen jüdischen Jesusbewegung anschließen. Es ist der Anfang eines langen, vielgestaltigen Prozesses, in dem sich aus der jüdischen Jesusbewegung, die an ihn als Messias/Christus glaubt, die christliche Kirche entsteht, zu der immer weniger Juden gehören, aber mehr und mehr "Heiden", also Angehörige der nichtjüdischen Völkerwelt, hinzukommen. In diesem Prozess werden "Pharisäer und Schriftgelehrte" oft in abwertender Darstellung zu Repräsentanten des nicht an Jesus als Messias/Christus glaubenden Judentums. Es geht um einen Prozess der Identitätsfindung der christusgläubigen Gemeinschaft. Schade ist immer, wenn eigene Identitätsfindung durch Verzerrung und Negativierung anderer geschieht.
Jesus stand den Pharisäern nahe
Es ist weitgehend Konsens, dass Jesus inhaltlich keiner religiösen Gruppierung seiner irdischen Zeit so nahestand wie den Pharisäern. Zu ihren religiösen Auffassungen gehörten der Glaube "an die kommende Welt und die Auferstehung der Toten am jüngsten Tage", an die Existenz einer "Engel- und Geisterwelt" und an den freien Willen und damit die Verantwortlichkeit des Menschen, auch wenn alles Geschehen eingebettet ist in die Vorsehung
Gottes. Zwischen Jesus und Pharisäern hat es Auseinandersetzung und Streitgespräche gegeben, aber eben auch vielfache Verbindungen.
Davon scheint in den Evangelien und der Apostelgeschichte trotz der im Hintergrund stehenden "Konkurrenzsituation" zwischen der jüdischen an Jesus als Messias/Christus glaubenden Gemeinschaft und den nicht christusgläubigen Juden etwas durch. So gibt es eine ganze Reihe differenzierter und positiver Erwähnungen von Pharisäern und Schriftgelehrten, auch wenn das öfter im Bewusstsein vieler an den Rand gedrängt oder untergegangen zu sein scheint.
Auch positive Erwähnungen von Pharisäern
Jesus wird von Pharisäern zum Essen eingeladen (Lk 7,36; 14,1); Pharisäer leisten Jesus einen Freundschaftsdienst, indem sie ihn vor der Tötungsabsicht des Herodes warnen (Lk 13,31), ein Schriftgelehrter will Jesus nachfolgen (Mt 8,19); der Pharisäer Nikodemus sucht Jesus zum Gespräch auf und wirkt später an einer würdevollen, Respekt bezeugenden Grablegung mit (Joh 3,1(-21); 19,39); durch seinen weisen Rat nimmt der pharisäische Schriftgelehrte Gamaliel die vor den Hohen Rat gebrachten Apostel und letztlich die ganze Jesus-Bewegung in Schutz (Apg 5,34(-39); zur an Jesus als Messias/Christus glaubenden Gemeinschaft in Jerusalem gehören auch Pharisäer (Apg 15,5); Paulus findet als Pharisäer vor dem Hohen Rat Unterstützung durch die pharisäische Gruppierung im Gegenüber zur Gruppierung der Sadduzäer (Apg 23,6-9).
Pharisäer nicht an Verhaftung Jesu beteiligt
Es ist auch einen Hinweis wert, dass im Markusevangelium als dem ältesten und den dieses als eine Grundlage nutzenden Evangelien nach Matthäus und Lukas Pharisäer begrifflich zwar immer wieder auch in Auseinandersetzungen mit Jesus genannt werden, aber an keiner Stelle wird von Pharisäern gesprochen im Zusammenhang der unmittelbaren Ereignisse, die zur Verhaftung und Verurteilung Jesu führen. Der Evangelist Markus bietet zudem das in meinen Augen schönste Beispiel im Neuen Testament für eine positive Beziehung zwischen einem, wie sich aus der vorherigen Erzählung nahelegt, pharisäischen Schriftgelehrten und Jesus.
Von gegenseitiger Sympathie getragen, führen sie ein Lehrgespräch zur Tora, konkret zur Frage des höchsten Gebotes – der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten (Mk 12,28-34). Zur Gottes- und Nächstenliebe gehört auch, in Bezug auf Mitmenschen und ihre Gruppierungen gegebenenfalls berechtigte und auch deutliche Kritik zu äußern, niemals aber verzerrend, vereinfachend, pauschal und herabwürdigend zu urteilen. Da ist manches gut zu machen, auch im Blick auf "Pharisäer".
Dr. Volker Menke war Superintendent in Peine. Im April 2024 ist der 64-Jährige in den Ruhestand gegangen und hat einen Gastdienst als Pfarrer der deutschen Auslandsgemeinde im ungarischen Budapest übernommen.