evangelisch.de: Heute am 9. November jährt sich die Reichspogromnacht. Müssen wir uns fragen, ob Juden in Deutschland noch sicher sind?
Thorsten Latzel: Jüdische Mitbürger:innen erleben die gegenwärtige Situation in Deutschland ambivalent. Einerseits erhalten sie von staatlichen Institutionen und auch von uns als Kirchen eine große Aufmerksamkeit und Unterstützung. Zugleich begegnet ihnen aber in der gesamten Gesellschaft, in den Medien und vor allem auch im unmittelbaren Umfeld der Nachbarschaft im Alltagsleben oft verbale und manchmal auch tätliche Anfeindungen. Fast alle jüdischen Mitbürger:innen vermeiden es, in der Öffentlichkeit mit einer Kippa herumzulaufen oder in der Straßenbahn etwa am Telefon Hebräisch zu sprechen oder irgendwie als Jüdin oder Jude erkannt zu werden, geschweige denn Zeichen der Solidarität mit Israel zu tragen.
Es ist ja so, dass jüdisches Leben insgesamt in Deutschland dauerhaft nur unter Polizeischutz möglich ist. Das wurde noch einmal verstärkt seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel.
2021/22 hatten wir eigentlich ein beeindruckendes Jubiläumsjahr in Deutschland: 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, wo wir selbstverständlich gefeiert haben, dass jüdisches Leben Teil von unserem Leben hier in Deutschland ist. Dass die Stimmung jetzt so schnell kippen konnte, ist bedrückend, gerade für jüdische Menschen. Und wir müssen wahrnehmen, dass viele Jüdinnen und Juden in Deutschland schon im Augenblick darüber nachdenken, wie sicher Deutschland für sie auf Dauer eigentlich ist.
Haben Sie Antisemitismus auch in Ihrem eigenen Umfeld beobachtet?
Latzel: Ja, Mitglieder der jüdischen Gemeinde sagten mir, dass sie mit den Schüler:innen von einer jüdischen Schule nicht nach außen gehen. Wir sind anlässlich des Jahrestages von dem Anschlag der Hamas auf Israel in einer Synagoge gewesen und haben Menschen gefragt, wie es ihnen geht. Sie sagten, dass sie noch nicht die Koffer packen würden, aber schon einmal schauten, wo sie stehen würden.
Deutschland muss ein Land sein, wo jüdisches Leben selbstverständlich möglich ist. Dass es Teil von unserem Gemeinschaft ist, unserem Zusammenleben. Aber wir müssen wahrnehmen, dass das jüdische Menschen allzu oft anders erleben, dass auf einmal Davidsterne an Häuser gesprüht werden, dass sie angefeindet werden, dass sie die öffentliche Diskussion und persönliche Begegnungen häufig ganz anders erleben.
Viele Menschen gehen zu Demonstrationen, bei denen antisemitische Parolen skandiert werden. Das ist etwas mit dem wir uns nicht abfinden dürfen. Antisemitismus hat keinen Platz bei uns, in keiner Form.
Was tun Sie persönlich, um Flagge zu zeigen?
Latzel: Wir als evangelische Kirche im Rheinland haben klar den menschenverachtenden Anschlag der Hamas auf Israel verurteilt und haben in der Folge unsere jüdischen Geschwister besucht. Wir haben Mahnwachen und Demonstrationen organisiert. Wir fördern den christlich-jüdischen und interreligiösen Dialog bei uns hier in Deutschland, wie auch in Israel und treten für eine friedvolle Lösung ein.
Darin sind wir als Evangelische Kirche im Rheinland stark engagiert. Die rheinische Kirche ist seit Jahrzehnten eine der Trägerinstitutionen des christlichen Kibbuz Nes Ammim ("Zeichen der Völker") im Norden Israels, wo wir Dialog- und Begegnungsarbeit zwischen Juden und Palästinensern fördern. Leider ist das im Augenblick wegen der Kriegssituation nicht möglich.
Können Sie uns mehr über diesen Kibbuz erzählen?
Latzel: In dem Kibbuz kommen jüdische und palästinensische Menschen ins Gespräch, man kann ehrenamtlich in der Dialogarbeit oder auch landwirtschaftlich mitarbeiten. Es ist eine Begegnungsstätte, in der auch viele junge Menschen aus Europa ehrenamtlich mitarbeiten. Im Augenblick muss die Arbeit aufgrund der Situation im Norden Israels ausgesetzt sein.
"Antisemitismus ist schlicht Sünde"
Darüber hinaus fördern wir mit unseren kirchlichen Mitteln aber auch dialogorientierte Einrichtungen an verschiedenen Stellen, wie etwa das Jüdische Jerusalem Center for Jesus, Christian Relations, das Leo Baeck Education Center in Haifa, Talitha Kumi in Beit Jala, die Dialogarbeit vom Evangelical College in Nazareth, die Arbeit von Givat Haviva. Das sind nur einige Beispiele, wo wir uns einsetzen, dass ein Leben von jüdischen und palästinensischen Menschen gemeinsam in Israel stattfinden kann.
Würden Sie denn so weit gehen zu sagen, es ist eine Christenpflicht, sich gegen Antisemitismus zu engagieren?
Latzel: Antisemitismus ist schlicht Sünde. Es ist unsere Aufgabe, dass wir jeder Form von Antisemitismus konsequent entgegentreten. Dazu ist jeder und jede einzelne aufgerufen. Wir als Kirchen tun das konsequent. Wir tun das auch, indem wir antisemitische Elemente in unserer eigenen christlichen Tradition, in der Geschichte der Kirche aufarbeiten und uns damit kritisch auseinandersetzen.
Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
Latzel: Der Synodalbeschluss der rheinischen Kirche "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen" bereits von 1980 drückt das in mehrfacher Hinsicht aus. Er bekennt sich zur Mitverantwortung der Christenheit in Deutschland am Holocaust, zum Alten Testament beziehungsweise der Hebräischen Bibel als gemeinsamer Glaubensgrundlage von Jüdinnen und Juden, Christ:innen, zu Jesus, dem Juden, als Messias Israels und Retter der Welt, zur bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes und dazu, dass wir als Kirche in den bleibenden Bund Gottes mit hineingenommen sind. Zugleich werden die Heimkehr des jüdischen Volkes in das Land der Verheißung und der Staat Israel als Zeichen der Treuer Gottes zu seinem Volk benannt.
An diesen Erkenntnis des christlich-jüdischen Dialogs gilt es immer weiter zu arbeiten. Wir müssen heute schauen, wo es zum Beispiel bildliche Darstellungen in Kirchen mit antisemitischen Tendenzen gibt. Und wir müssen uns kritisch mit antisemitischen Traditionen in der Bibelauslegung oder auch bei den Reformatoren auseinandersetzen.
Es gibt Antisemitismus in verschiedenen Formen: religiösen Antisemitismus, holocaustbezogenen Antisemitismus, Antisemitismus tradierter und neuer Formen. Wir müssen gegen jede Form von Antisemitismus in unserer Gesellschaft aufstehen, egal ob er von linker oder rechter Seite kommt, ob er ein eingewanderter Antisemitismus ist oder in unserer eigenen Tradition verwurzelt ist.
Der Antisemitismus-Bericht zur Situation in der Gesamtgesellschaft Nordrhein Westfalen ist erschreckend. In 2024 wurden 1.300 Menschen befragt, die über 16 Jahre alt sind. Und Ergebnis dieser Befragung war unter anderem, dass über 20 Prozent sagten, sie würden niemals in eine Synagoge gehen, 12 Prozent antworteten, dass sie glauben, dass jüdische Religion grundsätzlich Gewalt gegen Kinder legitimiert. Fast die Hälfte, nämlich 47 Prozent forderten, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit und den Holocaust zu ziehen.
"Antisemitismus äußert sich auch in Form von Israelkritik"
Das sind Zahlen, die einen wirklich erschrecken lassen und die eben auch von jüdischen Mitbürger:innen als wirklich bedrückend erfahren werden. Es gibt Menschen, die unbelehrbar sind und einen aktiven, lautstarken Antisemitismus vertreten. Es gibt aber auch Menschen, die Antisemitismus tolerieren und dazu schweigen.
Antisemitismus äußert sich auch in Form von Israelkritik. Natürlich kann man die israelische Regierung kritisieren. Aber man sollte keine anderen Maßstäbe an den Staat anlegen als an andere Staaten. Wir sollten nicht für uns beanspruchen, wir wüssten von außen besser, wie die Konflikte in Israel und Palästina zu lösen sind.
Es ist eine humanitär schlicht unerträgliche Situation, die wir im Gazastreifen miterleben. Menschen hungern, leben in Trümmern, es gibt keine ausreichende medizinisch Versorgung, sie müssen ständig neu vor Bomben fliehen und leiden unter den verheerenden Folgen des Krieges. Das darf nicht so weitergehen. Die Zivilbevölkerung ist zu schützen. Die Gewalt wird neue Gewalt schüren. Und es ist hoch problematisch, wenn das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) keinen Zugang zu den notleidenden Menschen habt. Zugleich darf nicht vergessen werden, dass der Terror der Hamas diese neue Eskalation ausgelöst hat, unter der die Menschen jetzt leiden müssen. Bis heute werden noch immer Menschen in Geiselhaft gehalten, bis heute ist unklar, ob sie überhaupt noch leben und wo sie sich befinden.
Wir brauchen eine friedvolle Lösung für alle Menschen in der Region. Wir brauchen Sicherheit und ein Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel, das von allen Nachbarn geteilt wird. Wir beten, auch eng verbunden mit den palästinensischen Christ:innen im Land, und setzen uns dafür ein, dass Frieden für alle Menschen, für Jüdinnen und Juden wie für Palästinenserinnen und Palästinenser möglich ist.
Christ:innen sind ebenso nicht von Antisemitismus gefeit. Wo ist der Ursprung?
Latzel: Ja, es gibt die Vorstellung, dass das Volk Israel abgelöst wäre durch Christ:innen, die Substitutionsthese. Es gab in der Geschichte der Christenheit viele Pogrome, die von Christ:innen ausgegangen sind, weil es einen Schuldigen brauchte, weil es eine Ausgrenzung der Jüdinnen und Juden gab, weil sie als Projektionsfläche herhalten mussten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine bewusste Besinnung und Umkehr christlicher Theologie und ein neues Bewusstsein für die bleibenden jüdischen Wurzeln, die wir haben, dass Jesus eben Jude gewesen ist.
Es wurde deutlich, wie viel an antisemitischen Elementen in traditioneller Bibelauslegung enthalten ist. In den kirchlichen Bildersprachen, in mancher Rede auch von der christlichen Kirche, in der Dogmatik gibt es viele antijüdische Stereotype, die man aufarbeiten musste und immer neu kritisch beleuchten muss. Das ist eine bleibende Aufgabe, die niemals abgeschlossen ist, der wir uns in jeder Generation immer wieder neu stellen müssen. Gerade in einer Zeit, in der viel an religiösen Wissen schwindet, darf das Bewusstsein für diese Neubestimmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses nicht verloren gehen.