Ein Pfarrer auf den Spuren der Hoffnung

Hände spenden Trost
Pexels/Pavel Danilyuk
Hoffnung, liest Pfarrer Günter Hänsel in einem Buch des Theologen Fulbert Steffensky, ist nicht mit Optimismus und Zuversicht gleichzusetzen.
Geborgen in schweren Zeiten
Ein Pfarrer auf den Spuren der Hoffnung
Angesichts von Krieg und Krisen auf der Welt suchen viele Menschen Seelenwärme und Geborgenheit. So geht es auch Pfarrer Günter Hänsel. Er hat danach gesucht und hat etwas gefunden. Folgen Sie ihm.

 Es können Worte, Gesten, Begegnungen oder Erzählungen sein, die sich in dieser Zeit der Sorgen, der Kriege und Krisen wie ein warmer Mantel um mich legen. Mir geht es um alles, was die Seele wärmt. Und ich höre und lese davon, dass sich viele Menschen nach Halt und Hoffnung in diesen Tagen sehnen. Viele suchen nach Trost und Halt in dieser Zeit, weil diese auch von einem Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlustes geprägt ist. Daneben gibt es noch die ganz persönlichen Zweifel und Ängste, die belasten.

Der Schriftsteller Daniel Schreiber beschreibt einfühlsam in seinem aktuellen Buch "Die Zeit der Verluste", in dem er um seinen verstorbenen Vater trauert, unsere gesellschaftliche Situation: "Spätestens seit den Ereignissen der Pandemie und des mit atomaren Drohungen einhergehenden russischen Feldzugs in der Ukraine hatten viele von uns realisiert, dass eine zuletzt fragiler werdende, doch immer noch greifbare Ära der Stabilität vorbei war." Neben ganz persönlichen Verlusten erleben wir, so Daniel Schreiber, auch kollektive Verluste von Gewissheiten, Werten und Sicherheiten: "Seit langem wache ich jeden Morgen immer wieder neu in der Zeit der Verluste auf. Ich möchte, dass das anders ist. Aber immerhin wache ich auf, denke ich. Ich wache auf, wie erschöpft oder ausgeruht auch immer, wie traurig oder zufrieden, angstvoll oder frei." 

Wo weiß ich mich in dieser Zeit trotzdem geborgen? Im Dezember 2023 ist das Buch "Worte in finsteren Zeiten" erschienen. Es ist ein Werk mit Texten, Sätzen und Gedichten von über 90 Autorinnen, Autoren und Personen des öffentlichen Lebens, die der Sprachlosigkeit und dem Schweigen angesichts des Krieges in der Ukraine und dem Überfall der Hamas auf Israel Ausdruck verleihen. Die Texte sind Kostbarkeiten. Sie geben Gefühlen eine Sprache. Hoffnung, lese ich da, ist nicht mit Optimismus und Zuversicht gleichzusetzen. Hoffnung gründet in einem Versprechen, schreibt der evangelische und katholische Theologe Fulbert Steffensky: "Die Hoffnung gibt sich nicht geschlagen. Sie ist vielleicht die stärkste der Tugenden, weil in ihr die Liebe wohnt, die nichts aufgibt, und der Glaube, der den Tag schon in die Nacht sieht."  

 

Solange ich Texte der Hoffnung und des Vertrauens lese, solange Menschen nicht müde werden, vom Frieden zu erzählen, solange menschliche Wärme sich ausbreitet, solange habe ich Hoffnung! Diese Hoffnung blendet die harte Realität, nicht aus, sondern sucht in ihr ein Licht, das Geborgenheit schenkt. Und weiter schreibt Fulbert Steffensky: "Wir wissen nicht, wie die Welt wird, aber wir wissen, was aus ihr werden soll. Wir haben keine Garantien für die Zukunft, aber wir haben eine Reihe von Versprechungen, Vorstellungen, Visionen und Liedern, die eine Welt besingen, wie sie sein und werden soll." 

Auf dem Weg zu Gott

Worte der Hoffnung und des Haltes finde ich in diesen Tagen im Tagebuch von Etty Hillesum, einer niederländischen jüdischen Slawistik- und Psychologiestudentin. Als die Nazis in den Vierzigerjahren die Niederlande besetzt hatten, schrieb sie Tagebücher. Sie und ihre Familie starben im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Etty Hillesum wurde gerade einmal 29 Jahre alt. Im März 2023 ist nun die erste deutsche Gesamtausgabe ihrer Tagebücher erschienen. Hillesum schreibt diese Tagebücher und weiß um die zunehmende Verfolgung der jüdischen Bevölkerung.

In ihrem Tagebuch sucht Etty Hillesum, eine niederländische jüdische Slawistik- und Psychologiestudentin, die im KZ-Auschwitz-Birkenau umkam, nach Gott und dem Sinn des Lebens.

Ihre Tagebücher beschreiben auch eine Suche nach sich selbst und ihren spirituellen Weg der Suche nach Gott. Ihre spirituelle Entwicklung vertieft sich über die Monate immer mehr und so werden viele Bücher für Etty Hillesum zu lieben Vertrauten, so zum Beispiel von Meister Eckhardt, Rainer Maria Rilke und die Psalmen. Die Texte begleiten sie und sie steht mit ihnen in einem gedanklichen und schriftstellerischen Dialog. Für Etty Hillesum ist klar, sie will die "Chronistin dieser Zeit" werden. So schreibt sie auch in eindrücklicher und bedrückender Weise über das tägliche Leid im Durchgangslager Westerbork.

Einander beistehen

Dort konnte sie vielen Menschen beistehen. Etty Hillesum schreibt am 17. September 1942: "Die Menschen sind für mich manchmal wie Häuser mit offen stehenden Türen. Ich gehe hinein und streife durch die Gänge und Räume, und jedes Haus ist ein wenig anders eingerichtet, und doch sind sie alle gleich, und aus jedem Haus sollte man eine heilige Bleibe für dich machen, mein Gott. […] Es gibt so viele leer stehende Häuser, in denen ich dich als wichtigsten Kostgänger unterbringe." Diese Worte berühren mich sehr. Unter grausamen Bedingungen trägt Hillesum ein Gottesbild in sich, das Gott ganz bei Menschen und mitten im Leben und im Leid weiß. In Gott fühlt sich Etty Hillesum geborgen und etwas von diesem Geborgensein lässt sie die Menschen im Durchgangslager Westerbork spüren.

Dass der Mensch die "heilige Bleibe" Gottes sei, verdeutlicht wie nahe Gott dem Menschen ist, verdeutlicht, dass er es auch im Leid bleibt. Es ist ein schwacher Gott, dem man selbst helfen muss, seinen Raum im Menschen zu behalten. Etty Hillesum beschönigt die grausamen Zustände ihrer Zeit nicht, zugleich weiß sie sich im "Allertiefsten in mir", wie sie Gott nennt, geborgen. So schreibt Etty am 03. Juli 1943 in einem Brief an ihre Freunde aus dem Durchgangslager Westerbork: "Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am späten Abend, wenn der Tag hinter mir in die Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es mir immer wieder aus dem Herz herauf [...]: Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen - und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen [...]." 

Dieser Briefausschnitt ist für mich ein Text der Hoffnung und des Trostes in schwerer Zeit. Angesichts der immer wieder aufwühlenden Nachrichten braucht es diese beiden Größen als Gegenkraft zu all dem Elend. Das Leben in seiner Herrlichkeit und Schönheit nicht zu vergessen, diese Haltung muss gerettet werden. Ich möchte auch jetzt nicht am Abend zu Bett gehen, ohne dankbar auf den zurückliegenden Tag zu schauen. Von dem Mystiker Meister Eckhardt habe ich gelernt: "Wäre das Wort ›Danke‹ das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen."

Mit Trost das Leid "ummanteln"

Ein anderer Autor hilft mir zurzeit genauso sehr wie es Etty Hillesum tut. Der Autor heißt Jean-Pierre Wils und beschäftigt sich in seinem Werk viel mit der Frage nach Trost. Das Leiden, so Wils, wird durch Trost nicht einfach aufgehoben, sondern das Leid wird ummantelt. Das macht das Leiden nicht leichter, aber der Leidende fühlt sich im Mantel des Trosts geborgen. Derartig geborgen fühlt sich ein Mensch verstanden. Wird der Trost von einem Freund, einem Mitmensch ausgesprochen, dann hat ein anderer Verständnis für mein Leid. Diese Erfahrung heilt. Eine Ummantelung finde ich immer wieder in Worten und Gesten des Zuspruchs. Nicht jeder Schmerz muss erklärt und gelöst werden, manchmal reicht es, dass uns jemand zuhört. Auch in der Natur fühle ich mich ummantelt.  Es geht weder ums Argumentieren oder Dozieren, noch um das Erklären von Leid, sondern wie Wils schreibt: "Der Trost speist sich aus Quellen, die nämlich größer und anders sind, als wir es sind. Wenn der Trost eine Art Ummantelung darstellt, können nicht wir es sein, die diesen Mantel planvoll und in fleißiger Eigenarbeit gestrickt haben. Schließlich vermag niemand, sich selbst zu trösten." 

Die letzten Worte von Etty Hillesum sind auf einer Postkarte vom 07. September 1943 zu lesen, die sie aus einem Zug warf und die später auf dem Bahngleis gefunden wurde. Sie schreibt diese letzten Zeilen in einem engen und vollen Güterwaggon an eine Freundin, sie ist auf dem Weg ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau: "Christien, ich schlage die Bibel an irgendeiner Stelle auf und finde das: Der Herr ist meine hohe Burg. Ich sitze mitten in einem vollen Güterwaggon auf meinem Rucksack. Vater, Mutter und Mischa sitzen einige Waggons weiter. Der Aufbruch kam doch noch ziemlich unerwartet. Plötzlich ein Befehl für uns speziell aus Den Haag. Wir haben dieses Lager singend verlassen, Vater und Mutter sind tapfer und ruhig, Mischa ebenso." 

Das sind Worte, die mich tief berühren. Für so unermessliches Leid findet Etty Hillesum Worte, die ihre Angst, aber auch ihr Gottvertrauen zeigen. Auch in dieser schrecklichen Zeit im Zug nach Auschwitz weiß Etty um Gott als "meine hohe Burg". Es ist kaum vorstellbar und doch schreibt sie, dass sie singend das Durchgangslager verlassen hat. Etty Hillesum ist nicht nur eine Chronistin ihrer Zeit, sie reicht uns durch ihre Worte auch heute einen Mantel, der das Schwere nicht verleugnet, sondern gerade in all dem Schweren wärmt.